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Zuwanderung: Fakten und mediale Nebelkerzen

By 11. Juni 2014März 18th, 2022No Comments

Zuwanderung hat wieder Konjunktur: Im letzten Jahr sind etwa 400.000 Menschen mehr nach Deutschland gekommen als fortgezogen, im Jahr 2015 dürfte der Zuwanderungssaldo weiter auf eine halbe Million Menschen anwachsen (1). Vergleichbar hohe Wanderungsüberschüsse gab es zuletzt in der Wendezeit, nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes. Damals erreichten sie Rekordwerte: 1992 kamen mehr als 1,5 Mio. Menschen nach Deutschland, ca. 700.000 wanderten ab – der Wanderungsüberschuss lag bei 780.000 Personen (2). Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ kamen Hunderttausende als Aussiedler, Asylantragsteller und Bürgerkriegsflüchtlinge nach Deutschland. Die Zuwanderungswelle ebbte ab, nachdem der Bundestag 1993 mit Zweidrittelmehrheit das Grundrecht auf Asyl (Art. 16 GG) ergänzt bzw. eingeschränkt hatte. In der zweiten Hälfte der 1990er und den 2000er Jahren ging der Wanderungssaldo stark zurück und lag in den Jahren 2004-2009 schließlich nur noch bei wenigen Zehntausend (3).

Ein Grund für diesen Rückgang der Zuwandererzahlen war auch die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in Deutschland, das in den ersten Jahren nach der Euro-Einführung als „kranker Mann Europas“ galt. Dagegen boomte die Wirtschaft, vor allem der Bau, in Spanien, Irland und Großbritannien: Millionen Zuwanderer, viele aus Polen und Südosteuropa, zogen in diese Länder, um Arbeit zu finden. Diese Jobmaschine fiel aber aus, als 2007/2008 die Finanz- und Immobilienkrise platzte. Während dieser Krise blieb die Arbeitsmarktlage in Deutschland dagegen stabil bzw. besserte sich weiter („Jobwunder“). Dadurch wurde Deutschland wieder zum Hauptzielland von Zuwanderern innerhalb Europas. Statt in Spanien suchen Mittelost- und Südosteuropäer nun in Deutschland Arbeit und Auskommen (4). Das bei weitem wichtigste Herkunftsland ist Polen, an zweiter Stellte folgen Rumänien und dann – mit Abstand – Bulgarien und Ungarn. Erst danach kommen die südeuropäischen Krisenländer Italien, Spanien und Griechenland, die weit weniger ins Gewicht fallen als Polen und Rumänien. Selbst aus dem kleinen Land Bulgarien mit nur 7 Mio. Einwohnern kamen 2012 mehr Zuwanderer (58.000) nach Deutschland als aus Italien (45.000) oder Spanien (38.000) (5).

Soweit die Fakten. Viele Medien vermitteln indes ein anderes Bild. Sie überschätzen die Zuwanderung aus den Eurokrisenländern. Interessanter als bulgarische Bauarbeiter sind für sie spanische Informatiker, die der Arbeitslosigkeit zu Hause entfliehen und in Deutschland Arbeit finden. Letztere erscheinen geeigneter und erfreulicher, um als Beispiel die Vorzüge der Personenfreizügigkeit in der Europäischen Union zu illustrieren. Diese Freizügigkeit gilt seit 2014 unbeschränkt auch für Rumänien und Bulgarien, was die Zuwanderung von dort weiter steigen lassen dürfte. Obwohl in manchen Großstädten, vor allem im Ruhrgebiet, Missstände infolge einer „Kettenmigration“ aus Südosteuropa eigentlich unbestreitbar sind, werden Warnungen vor weiterer Armutsmigration im politisch-medialen Betrieb als fremdenfeindlich abgekanzelt. Probleme durch Zuwanderung in die Sozialsysteme gebe es eigentlich gar nicht, vielmehr profitiere, so die herrschende Lehre, Deutschland von den neuen, gut qualifizierten, auf dem Arbeitsmarkt erfolgreichen Zuwanderern (6).

Ein realistisches, kritischeres Bild zeigt allerdings die Statistik der Bundesagentur für Arbeit: Demnach liegt die „Hartz-IV-Quote“ von Bulgaren (17,6%) mehr als doppelt so hoch wie der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung (7,2%). Dass es hier Problemgruppen gibt, die sich in bestimmten Großstädten konzentrieren, belegen die statistischen Zahlen eindeutig (7). Ganz anders ist die Lage der Rumänen: Ihre Transferquote (8,2%) entspricht in etwa dem Durchschnitt der deutschen Bevölkerung. Sie beziehen damit seltener Transfers als die Zuwanderer aus den Krisenländern Südeuropas (11,4%) (8). Welche Hintergründe hat das auffallende Gefälle zwischen Rumänen und Bulgaren? Ob die Politik bereit ist, diese Frage durch eingehendere Untersuchungen aufklären zu lassen? Dies wäre nötig, um Spekulationen den Boden zu entziehen und die Debatte zu versachlichen.

(1) Hierzu: http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/deutschland-erwartet-eine-halbe-million-zuwanderer-12974988.html; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/zuwanderung-nach-deutschland-so-hoch-wie-seit-20-jahren-nicht-mehr-a-941853.html. Die Medien berufen sich für die Jahre 2014 und 2015 auf Hochrechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Endgültige amtliche Zahlen liegen bisher erst bis zum Jahr 2012 vor. Vgl.: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Migrationsbericht 2012 (Migrationsbericht des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Bundesregierung), Berlin 2014, S. 15.
(2) Vgl. ebd. (Tabelle 1-1: Zu- und Fortzüge über die Grenzen Deutschlands von 1991 bis 2012).
(3) In den Jahren 2008 und 2009 war er sogar negativ. Der Grund dafür ist aber wahrscheinlich kein tatsächlicher Wanderungsverlust, sondern eine Bereinigung der Melderegister aufgrund der bundesweiten Einführung der persönlichen Steuer-Identifikationsnummer. Vgl. ebd. und Pressemitteilung Nr. 185 des Statistischen Bundesamtes vom 26. Mai 2010.
(4) Detailliert hierzu: Stephan Humpert et al.: Neue Ost-West-Migration nach Deutschland? Zuwanderung im Kontext von Freizügigkeit und Wirtschaftskrise am Beispiel Bulgariens und Rumäniens, Vortrag bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Demographie am 13. März 2014 in Berlin (abrufbar unter: http://www.demographie-online.de/index.php?id=213).
(5) Vgl.: Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Migrationsbericht 2012, a.a.O., S. 15. Hier lässt sich ersehen, dass die Zuwanderung aus der Türkei seit den 1990er Jahren stark an Bedeutung verloren hat. Dies ändert aber nichts daran, dass Türkischstämmige nach wie vor die bei weitem größte Gruppe der Zugewanderten in Deutschland sind. Siehe hierzu auch: Woher kommt die neue Migration? (Abbildung).
(6) Exemplarisch dafür: Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung: Neue Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland, Berlin 2014. Diese Studie wurde in den Medien dahingehend interpretiert, dass die Zuwanderer heute im Allgemeinen gut qualifiziert seien und deshalb auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen hätten. Tatsächlich zeigt die Studie aber, dass ein hohes formales Bildungsniveau keine Gewähr für Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt bietet (Vgl. ebd., S. 38). Hier zeigt sich derselbe Irrtum wie in der der Diskussion um die Bildungspolitik: Die Aussagekraft formaler Bildungsabschlüsse wird überschätzt.
(7) In einigen Städten erreicht die Arbeitslosigkeit der Bulgaren erschreckende Werte: In Dortmund liegt sie bei 29,2%, in Duisburg sogar bei 36%. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien, Mai 2014, S. 7.
(8) Vgl.: Migrationsherkunft und Risiko des Hartz-IV (Abbildung).