Wer in Rotterdam, Berlin oder Kopenhagen verschleierten Frauen wie in Beirut oder Damaskus begegnete und vor allem wer mit fremdartigen Gewohnheiten im Bereich von Familie, Erziehung und Heirat konfrontiert wurde, die von einer islamischen Kultur geprägt waren und im Widerspruch zu den modernen europäischen Anschauungen standen, musste sich fragen, ob unbegrenzte Toleranz nicht in Verleugnung oder Aushöhlung der eigenen Werte und Kultur umschlagen kann. […] Jetzt, da in Europa in der Sexualität, im Verhältnis der Geschlechter und in der Erziehung frühere Tabus und Beschränkungen verschwunden waren, war der Kontrast zu den Sitten und der Denkweise von Menschen aus einer ganz andersartigen Kultur umso auffälliger. Angesichts des hohen Stellenwerts, den Toleranz, Antirassismus und die Emanzipation von Minderheiten im offiziellen Moralkodex seit den sechziger Jahren hatten […] verstrickte man sich hier in ein verzwicktes, paradoxes Problem. Gerade diejenigen, die sich mehr als andere und aus Prinzip für Emanzipation und Rechtsgleichheit stark machten, mussten die Ungleichheit (nach den eigenen Maßstäben also Diskriminierung), die untergeordnete Position der Frau und die ganze patriarchalische Familienstruktur in den islamischen Gemeinschaften verurteilen. Nach dem ebenso bedeutsamen Toleranzprinzip dagegen, das auf den Gedanken der Gleichwertigkeit der verschiedenen Religionen und Kulturen beruht, mussten sie all dies respektieren. Es ist nicht verwunderlich, dass Regierungen und Öffentlichkeit diese Grundsatzfragen am liebsten vor sich her schoben.