Ist die deutsche Flüchtlingspolitik abschreckend? Ist ihre Hilfe nur eine Tarnung? Diesen moralisierenden Vorwurf erheben Medien, die den deutschen Behörden „Versagen“ bei der Unterbringung von Flüchtlingen vorwerfen (1). Und in der Tat sind die Zustände unerfreulich: Es mangelt an Unterkünften, so dass sich manche Kommunen gezwungen sehen, Flüchtlinge (vorübergehend) in Containern unterzubringen (2). Quartiere für Tausende Menschen lassen sich aber nicht in wenigen Wochen oder gar Tagen aus dem Boden stampfen. Das geht vor allem dann nicht, wenn auch auf die Anliegen der einheimischen Bürger Rücksicht genommen werden soll. Denn trotz Mitleids mit den Leiden Verfolgter stoßen Flüchtlingsheime in der Nachbarschaft auf Vorbehalte. Anders als etwa bei der Klimapolitik sind Ängste der Bürger beim Thema Zuwanderung unerwünscht, gelten als fremdenfeindlich und reaktionär.
Das betrifft nicht nur die Bürgerkriegsflüchtlingsströme aus dem Nahen Osten, sondern auch die innereuropäische Armutsmigration: Nach „herrschender Lehre“ dürfte es die gar nicht geben. Die absehbare Zuwanderung in die Sozialsysteme wurde schlicht abgestritten mit der Behauptung, dass vorwiegend hochqualifizierte Zuwanderer kämen und dem akuten Mangel an qualifizierten Arbeitskräften in Deutschland abhelfen würden. Die amtliche Statistik zeigt indes ein anderes, ernüchterndes Bild der Migration: Demnach ist die Transferabhängigkeit, namentlich das Risiko auf „Hartz-IV“ angewiesen zu sein, für Ausländer deutlich höher als für Einheimische (3). Und das betrifft nicht nur gering qualifizierte Zuwanderer aus Afrika oder dem Nahen Osten, sondern auch Südeuropäer. Sie profitieren von der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, die es ihnen erleichtert, der heimischen Arbeitslosigkeit zu entfliehen. Diese Flucht kann natürlich auch erfolgreich sein, wie die Beispiele spanischer Informatiker zeigen, von deren Knowhow deutsche Firmen profitieren. Aber in vielen Fällen endet die Flucht vor der Krise wieder in der Arbeitslosigkeit, weil sich die Jobsuche doch schwieriger gestaltet als erwartet. Auffangnetz sind dann die Sozialsysteme.
Das ist enttäuschend für die Zuwanderer und belastend für die Einheimischen, die für die Kosten aufkommen müssen. Ihre Belastungsgrenzen missachten jene Gerichte, die mit ihren Urteilen die Sozialleistungsansprüche von Zuwanderern großzügig ausweiten (4). Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird so zur Sozialleistungsfreizügigkeit. Das ergibt sich zwangsläufig aus dem Wohlstandsgefälle in Europa und trotz aller Versprechungen, Programme und Milliardensubventionen der Europäischen Union wird sich die gewaltige Wohlstandskluft so bald nicht schließen lassen. Im Gegenteil verschärft die Dauerkrise der Eurozone das Gefälle weiter und lenkt damit die Migrationsströme nach Norden. Ein Schlüsselereignis war das Platzen der Immobilienblase in Spanien: Bis 2008 zog dort ein Bauboom Hunderttausende Zuwanderer aus Mittel- und Südosteuropa an. Mit der Arbeitsmarktkrise brach dieser Zustrom nicht nur ab, sondern kehrte sich um: Seit etwa vier Jahren verlassen mehr Menschen Spanien als andere einwandern – Spanien ist so wieder ein Auswanderungsland geworden (5). Statt in Spanien suchen nun viele Mittel- und Südosteuropäer in Deutschland ein Auskommen (6).
Das ist eine Ursache neben anderen (zum Beispiel den Kriegen im Nahen Osten) für das sprunghafte Wachstum der Zuwanderung, das in diesem Jahr zu einem „Wanderungssaldo“ von einer halben Million Menschen führen dürfte. Oft vergessen wird, dass sich dieser „Wanderungssaldo“ aus der Zahl der Zuwanderer minus der Zahl der Auswanderer ergibt: Die Zahl der Zuwanderer, die „brutto“ nach Deutschland kommt, ist also erheblich höher als der Wanderungssaldo; sie könnte 2015 bei mehr als 700.000 Personen liegen (7). Alle diese Zuwanderer – nicht nur die „Nettozuwanderer“ – müssen eine Unterkunft finden, versorgt und „integriert“ werden. In manchen Fällen, wie den beliebten Informatikern, mag der Aufwand dafür gering und der Nutzen groß sein. In vielen anderen Fällen ist der Aufwand groß, nicht zuletzt bei Bürgerkriegsflüchtlingen, die medizinisch und psychologisch betreut werden müssen. Diese Hilfe ist ein Gebot der Menschlichkeit. Wer diese Solidarität fördern will, sollte der arbeitenden Bevölkerung nicht immer weitere, vermeidbare Soziallasten aufbürden. Mit dieser Einsicht scheinen manche Entscheidungsträger in Justiz und Politik ihre Schwierigkeit zu haben.