Es gehört zu den Hauptklagen von Familienverbänden, daß die Politik Familie nur in Funktion des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft sehe. Eine Bestätigung des Vorwurfs liefert das Bundesministerium für Familie, Frauen und Jugend in ihrem jüngsten Monitor Familienforschung (1). Hilfen für Familien werden auch in diesem Bericht vor allem als „Investitionen in die Infrastruktur für Familien“ definiert. Diese würden zu einer „Vereinbarkeitsrendite“ beitragen. Aus dem Dreiklang Zeit-Geld-Infrastruktur, den schon die frühere Familienministerin Ursula von der Leyen als Zieldreieck einer modernen Familienpolitik definierte, leitet der Monitor des heutigen Ministeriums unter Manuela Schwesig zum Beispiel ab: „Familienpolitische Leistungen und Maßnahmen können sich positiv auf den Faktor Zeit auswirken, indem sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern und es so Personen mit Familienverantwortung und hier insbesondere Müttern ermöglichen, im gewünschten Umfang erwerbstätig zu sein“. Mehr Zeit, um länger erwerbstätig zu sein. Und weiter: „Schließlich kann Familienpolitik auch die Produktivität steigern, indem sie im Rahmen der frühkindlichen Bildung ein solides Fundament für die Kompetenzentwicklung junger Menschen legt.“ (2) Es geht um Produktivität und Erwerbstätigkeit. Die schon seit Jahren sich häufenden Ergebnisse der Hirn-und Bindungsforschung werden weiterhin beharrlich ignoriert, auch und gerade für die Bildung. Entsprechend den Zielen Produktivität und Zeit / Ausbau der Infrastruktur werden auch die öffentlichen Leistungen für Familien taxiert.
Für Mütter und Väter sind das offensichtlich nachrangige Ziele. Abgesehen davon, daß der volkswirtschaftliche Wert der in den Familien erbrachten Pflege- und Erziehungsleistungen im Monitor keine Berücksichtigung findet, obwohl er nach der „Zeitbudgeterhebung“ des Statistischen Bundesamts heute mindestens 900 Milliarden Euro bzw. 40 Prozent des Bruttosozialprodukts betragen dürfte (3), hat eine Umfrage der Zeitschrift Eltern festgestellt, daß die Ziele der Politik sich nach wie vor erheblich von den Wünschen der Eltern unterscheiden (4). Denn: 87 Prozent der Befragten finden, der Druck auf Familien hat eher zugenommen. 60 Prozent der Eltern fühlen sich nicht frei in ihrer Entscheidung, wann und in welcher Form sie nach ihrer Elternzeit wieder in den Beruf einsteigen. Lediglich elf Prozent der Eltern wollen gleich (nach zwei Monaten oder einem halben Jahr) wieder arbeiten, aber über 51 Prozent finden eine Babypause von zwei Jahren oder mehr richtig. Von den in der EMNID-Studie befragten Eltern, die sich aktuell in Elternzeit befinden bzw. sich ganz der häuslichen Erziehung und Bildung der Kinder widmen, wollen nur acht (!) Prozent in einen Vollzeitjob zurück“.
Pavel Jerabek, Vorsitzender des Familienbundes der Katholiken im Bistum Augsburg, folgert daraus, Wahlfreiheit sei so nicht möglich, und: „Konkret fordert der Familienbund, ein steuer- und sozialversicherungspflichtiges Erziehungsgehalt einzuführen. Das würde den Bedürfnissen der Familien in Deutschland gerechter werden als eine Familienpolitik in Funktion des Arbeitsmarktes. Ein Erziehungsgehalt / Erziehungslohn wäre eine Anerkennung der gesellschaftlich notwendigen Erziehungsleistung, mithin ein Schritt zu mehr Leistungsgerechtigkeit. Es gäbe den Familien mehr ökonomische Unabhängigkeit und würde erst wirklich die freie Wahl der Lebensführung ermöglichen. Außerdem würde es den Eltern die Möglichkeit eröffnen, mit ihrer erzieherischen, in ihrer Bedeutung für unseren Wohlstand stets unterschätzten Arbeit auch für ihre eigene Alterssicherung vorzusorgen“.
Auch diese Argumente und Forderungen sind nicht neu. Um die Jahrtausendwende gab es um das Erziehungsgehalt sogar eine Diskussion, bei der einige namhafte CDU-Politiker Verständnis zeigten, zum Beispiel der damalige Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf. Eine Serie von Kongressen ging der Frage nach, welche Formen des Erziehungslohns es in Europa gibt und wie die Familienarbeit zu definieren sei (5). Mit der ersten Großen Koalition 2005 und der Krippenoffensive sowie dem Elterngeld verstummte die Diskussion im politischen Diskurs. Fortan war Familienpolitik Familienmitgliederpolitik und die Erziehungsleistung der Eltern und der Familie als Institution im Abseits (6). Beredtes Zeugnis dessen gab die mediale Debatte um das Elterngeld und vor allem um das Betreuungsgeld („Herdprämie“, „Geld für Rauchen und Flachbildschirme“ etc.), das auch eine kleine Anerkennung dieser Erziehungsleistung darstellte. Das BVG hat auch nicht diese Anerkennung infrage gestellt, sondern in seinem Urteil vom Juli 2015 nur die Kompetenz des Bundes als verfassungswidrig festgestellt. Wie sehr die gesellschaftlich notwendige Erziehungsleistung im Abseits steht, illustriert auch die Tatsache, daß der von der Bundeszentrale für politische Bildung zu Landtags- und Bundestagswahlen jeweils veröffentlichte Wahlomat in seinen 38 Fragen keine einzige zur prekären Lage und Leistungsgerechtigkeit für Familien stellt. Das Thema scheint für politische Entscheidungen Tabu zu sein.
Bei den Eltern und Familienverbänden jedoch verstummt die Diskussion um eine Anerkennung ihrer Erziehungsleistung und um Leistungsgerechtigkeit nicht, siehe die Eltern-Umfrage und ihre Reaktion. Außerdem: Wie vor jeder Wahl stellte der Verband Familienarbeit e.V. Wahlprüfsteine auf (7). Die Antworten der Parteien zeigen auch diesmal die Diskrepanz zwischen den Wünschen der Eltern und den Programmen der meisten Parteien. Erstaunlich ist, daß das politisch-mediale Establishment trotz einer nachweisbaren gegenläufigen Entwicklung am Modell der doppelten Vollzeitbeschäftigung für Eltern festhält (8). In Nordrhein-Westfalen ist immerhin eine Annäherung zu beobachten. Mit dem geplanten Baukindergeld, das der CDU-Chef dieses Bundeslandes, Armin Laschet, vorschlägt und der Absicht, „sich wieder mehr um die Mitte der Gesellschaft“ zu kümmern, das heißt sich mit dem Leistungsträger Familie zu befassen, könnte eine Rückbesinnung über Realität und Lebenswirklichkeit von Familien einhergehen. Ob dies so ist, wird man nach den Wahlen in NRW oder auch im Bund sehen.