Wohl noch nie in Friedenszeiten waren Sterbefallstatistiken politisch so brisant wie in der Corona-Krise. Insbesondere für die Beurteilung der Lockdown-Maßnahmen spielen sie eine Schüsselrolle. Im Fokus steht die sog. Übersterblichkeit oder Exzess-Mortalität, die eine, im Vergleich zu Erfahrungswerten, erhöhte Sterberate bezeichnet. Mit Hilfe dieser demografischen Maßzahl werden Auffälligkeiten der Sterblichkeitsentwicklung im Zeitverlauf erfasst, z. B. die Auswirkungen von Grippewellen. In der Corona-Krise wurde oft auf die Grippewelle 2017/18 verwiesen, der 25.000 Todesfälle zugeschrieben werden (1). Tatsächlich handelt es sich bei den 25.000 Todesfällen um eine retrospektive Schätzung für eine gesamte Saison. Eine vergleichbare, abschließende Zahl gibt es für die Covid-19-Pandemie nicht, weil die Infektionswelle andauert.
Fest steht, dass in deutschen Laboren im Winter 2017/18 rund 1.700 Influenza-Todesfälle und bis dato (Ende Juli) rund 9.000 Covid-19-Todesfälle vorliegen. Das ist eine relativ geringe Zahl im Vergleich zu den Todeszahlen anderer westlicher Länder, gerade der unmittelbaren Nachbarländer im Westen. Nach OECD-Berechnungen verzeichnet Deutschland auf 1 Million Einwohner 109, die Niederlande dagegen 358 und Frankreich sogar 462 an Covid-19 Verstorbene (2). In Frankreich und den Niederlanden zeigt sich ein scharfer Anstieg der Übersterblichkeit im Frühjahr, der ähnlich ausgeprägt ist wie in Italien. Noch härter traf es in Europa Belgien, Spanien und Großbritannien. Dies lässt sich mittlerweile klar feststellen, sowohl in Bezug auf die laborbestätigten Covid-19-Sterbefälle als auch auf die Übersterblichkeit (3).
Bisher geht eine höhere Zahl von Covid-19-Sterbefällen eindeutig mit einer höheren Sterblichkeit einher. Dies gilt auch für Schweden, das Kritikern des „Lockdown“ als Vorbild gilt. Diese Kritiker argumentieren, dass Lockdown-Maßnahmen eine Wirtschaftskrise hervorrufen würden, die längerfristig für die Gesundheit und für die Lebenserwartung der Menschen noch schlimmere Auswirkungen hätte als die Pandemie selbst (4). Das ist eine Annahme, die sich erst retrospektiv falsifizieren lässt. Dafür braucht es neue Daten zur Lebenserwartung, die frühestens in ein bis zwei Jahren vorliegen werden.
Die Lebenserwartung wird der härteste Indikator für den Erfolg oder Misserfolg der Pandemiebekämpfung sein. Die Daten hierzu dürften brisant werden, insbesondere für die Vereinigten Staaten, die seit Monaten Brennpunkt der Pandemie sind. Hier lag die Übersterblichkeit zwischen März und Mai um annähernd 30% über den offiziell gemeldeten Fällen an COVID-19 Verstorbener. Dafür scheint ein ganzes Bündel von Ursachen verantwortlich zu sein, besonders Herzerkrankungen, Schlaganfälle und Diabetes. Hier können sowohl der Lockdown wie auch die (lokale) Überlastung des Gesundheitswesens in der Pandemie Defizite in der Gesundheitsversorgung verschärft haben, unter denen in den USA ohnehin schon breite Schichten zu leiden haben. Auffällig gestiegen ist auch die Zahl der an Morbus Alzheimer Verstorbenen. Hier lässt sich vermuten, dass in Pflegeheimen viele Menschen an COVID-19 gestorben sind, bei denen nicht auf SARS-CoV-2 getestet wurde und deshalb der Nachweis fehlt (5).
Angesichts der aktuell verschärften Krise vor allem im Süden der USA sind für die nähere Zukunft weitere Hiobsnachrichten zu befürchten. Dabei war die Gesundheitslage in den USA schon vor der Corona-Krise besorgniserregend: Aufgrund verschiedener Ursachen, nicht nur der Drogen- bzw. Opioidkrise, sondern auch zunehmender Herz-Kreislauferkrankungen, entwickelt sich die Lebenserwartung in den USA schon länger auffallend schwach. Zuletzt ging sie sogar zurück: Von 78.8 Jahre in 2014 auf 78,5 Jahre in 2019 (6). Die Lebenserwartung der Amerikaner ist damit weit niedriger als die von Japanern (84 Jahre), Italienern (83 Jahre), Schweden und Franzosen (rund 82 Jahre) oder auch Deutschen (rund 81 Jahre). Allerdings hat sich die Lebenserwartung auch hier in Europa, wenn auch auf höherem Niveau, zuletzt schwach entwickelt. Es gibt Tendenzen zur Stagnation, die historisch bemerkenswert sind. Denn über viele Jahrzehnte war die Lebenserwartung stetig, jedes Jahr um etwa drei Monate gestiegen (7). Sollte die Lebenserwartung infolge der Corona-Pandemie nicht nur stagnieren, sondern sogar zurückgehen, wäre dies ein tiefer historischer Einschnitt.