Versagt der „Kinderschutz“ in Deutschland? In ihrem Werk „Deutschland misshandelt seine Kinder“ berichten Rechtsmediziner über Kinder, die von ihren Eltern misshandelt, schwer verletzt und getötet werden (1). An den traurigen Kinderschicksalen mitschuldig seien die Jugendämter, die, zu leichtgläubig gegenüber prügelnden Eltern, misshandelte Kinder oft viel zu spät aus ihren Familien heraus holten. Immer wieder schrecken Berichte über schockierende Misshandlungsfälle die Öffentlichkeit auf, wie etwa der fünfjährigen Lea-Sophie (2007), die qualvoll verhungerte. Auf diese Fälle haben die Jugendämter reagiert, in dem sie Kinder schneller der Obhut ihrer Eltern entziehen: Während die Zahl der „vorläufigen Schutzmaßnahmen“ insgesamt seit 2005 ca. um 40% gestiegen ist, hat sich die Anzahl der „Herausnahmen“ aus Familien seit 2005 mehr als verdreifacht (2). Die Kinder kommen dann in Pflegefamilien oder Heime. Dass es so weit kommt, sollen „frühe Hilfen“ verhindern, in deren Ausbau erhebliche Mittel investiert wurden (3). In Modellprojekten wurden neue Qualitätsstandards für die Arbeit der Jugendämter entwickelt und mit dem „Bundeskinderschutzgesetz“ neue Rechtsgrundlagen gesetzt (4). Wie auch immer man diese Maßnahmen bewerten mag: Untätigkeit kann man der Politik, den Behörden und ihren Mitarbeitern nicht vorwerfen. Und offensichtlich ist auch, dass es nie einen perfekten Kinderschutz geben wird, kein noch so starker Staat kann Kindesmisshandlung- und Tötung aus der Welt schaffen.
Bei aller Betroffenheit über die Einzelschicksale, muss der Blick auf die statistischen Zahlen erlaubt sein. Und die widerlegen den Alarmismus der Rechtsmediziner: Ihre Behauptung, dass jährlich mehrere hundert Kinder von ihren Eltern getötet werden, entbehren einer seriösen Grundlage. Denn jährlich sterben in Deutschland etwa 350 Kinder an tödlichen Verletzungen. Zu den tödlichen Verletzungen zählen in der Todesursachenstatistik alle Arten von Unfällen (im Verkehr, in der Schule, beim Sport und zu Hause), Suizide und tätliche Angriffe sowie unbestimmte Fälle. Mehr als achtzig Prozent der Todesfälle machen Unfälle aus, die Zahl der Suizide und auch der Todesfälle durch tätliche Angriffe ist relativ gering. Nur etwa 40 Kinder im Jahr sterben durch tätliche Angriffe, wobei wohl die meisten, aber nicht alle diese Angriffe von den Eltern ausgehen. Schwer zu beurteilen sind die ca. 170 „Heim- und Freizeitunfälle“ (5). Vernachlässigung durch die Eltern kann zu manchen dieser Unfälle beigetragen haben. Die Zahl der statistisch erfassten Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern mit Todesfolge liegt also nicht in den Hunderten, sondern deutlich unter hundert.
Nun ist immer davon auszugehen, dass es eine gewisse „Dunkelziffer“ unentdeckter Fälle gibt, denn die Richtigkeit der Todesursachenstatistik hängt von den Angaben der Ärzte ab. Hier mag es im Blick auf die richtige Diagnose von Kindesmisshandlungen als Todesursache noch immer gewisse Defizite geben. Im Vergleich zu früher dürften sie aber geringer geworden sein, denn die Sensibilität gegenüber physischer Gewalt an Kindern ist gewachsen, seit 2000 ist sie auch gesetzlich geächtet (6). Damit ist die Neigung, Fälle von Kindesmisshandlungen anzuzeigen gestiegen. Trotzdem zeigt die Statistik eine positive, rückläufige Tendenz: Im Vergleich zum Jahr 2000 ist die Zahl der Kinder, die an tödlichen Angriffen starben, um mehr als die Hälfte gesunken (7). Das Risiko für Kinder, häuslicher Gewalt zum Opfer zu fallen, ist im Vergleich zu früheren Jahrzehnten stark gesunken: Um 1980 gab es bezogen auf 100.000 Kinder 1,5 Fälle von Kindestötungen, heute sind es etwa 0,5 Fälle (8). Trotz erschütternder Einzelfälle ist die generelle Tendenz zu sehen: Nie zuvor gab es weniger Gewalt in der Kindererziehung als heute und nie zuvor waren Eltern so besorgt um die Gesundheit ihrer Kinder. Sie sind die natürlichen Advokaten ihrer Kinder – der Staat ist (Art. 6 GG) Wächter, aber nicht Obererzieher, was manchmal in Vergessenheit zu geraten droht.