Die potentielle Koalition aus CDU/CSU und SPD will laut Koalitionsvertrag eigene Kinderrechte in der Verfassung verankern (1). Das hatte sie schon bei den Sondierungen beschlossen und aus früheren Koalitionsgesprächen übernommen. Die Diskussion ist alt und hat auch schon zu Debatten im Bundestag geführt (2). Seltsamerweise ist von Seiten der Familienverbände der große Protest bisher ausgeblieben. Das mag auch daran liegen, dass die Anwälte der traditionellen Ehe und Familie derzeit mit den Auswüchsen der Gendertheorien und dem Streit um die Ehe für alle beschäftigt sind. Um deren Kinder aber geht es vor allem. Denn nach Angaben des Mikrozensus machen die traditionellen Familien und Ehen immerhin deutlich mehr als zwei Drittel aller Paare und Familien in Deutschland aus. Deshalb ist das Thema der Kinderrechte in seinen Wirkungen kaum zu unterschätzen. Das gilt für die juristisch-abstrakte Ebene, aber auch für die praktisch-empirische.
Auf juristischer Ebene weisen Verfassungsrechtler wohl begründet darauf hin, daß es keine Schutzlücke im Grundgesetz gibt (siehe Zitat des Monats). In einem Gespräch mit iDAF bekräftigt erneut Arnd Uhle, Richter am Verfassungsgerichtshof des Freistaats Sachsen und Professor am Lehrstuhl für Öffentliches Recht insbesondere Staatsrecht und Verfassungstheorie der Universität Leipzig, das Grundgesetz „schützt Kinder bereits heute in vorbildlicher Weise“. Das gelte auch für Fälle von Kindesmissbrauch und Gewalt in Familien. Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt und noch 2008 Kinder als „Rechtssubjekt und Grundrechtsträger“ definiert. „Daher genießen Kinder bereits nach geltendem Verfassungsrecht den Schutz, den die Grundrechte des Grundgesetzes verbürgen – vom Grundrecht auf Leben bis zum Schutz der Religionsfreiheit. Einer ausdrücklichen Aufnahme neuer Kinderrechte bedarf es dafür nicht“. Uhle warnt sogar vor einer Aufnahme eigener Kinderrechte. Die bisher bekannten Vorschläge zeichneten sich in der „Tendenz aus, das Verhältnis zwischen Elternverantwortung und staatlichem Wächteramt zu verändern – und zwar zulasten des Elternrechts und zugunsten der staatlichen Einflussnahme. Denn neu positivierte Kinderrechte haben das Potenzial, unter Berufung auf den Schutz der Kinder zukünftig bereits im Vorfeld einer Beeinträchtigung des Kindeswohls – und damit sehr viel früher und häufiger als bislang – staatliche Interventionen zu rechtfertigen. Eine solche Entwicklung würde für das Verhältnis von Elternrecht und staatlichem Wächteramt einen in seiner Bedeutung kaum überschätzbaren Paradigmenwechsel bedeuten“. Das könnte etwa konkret mit dem Hinweis auf frühe Bildung begründet zu einer staatlichen Kita-Pflicht für Kleinstkinder und Kindergartenkinder führen. Oder zu mehr staatlichen Eingriffen in die Familien und Inobhutnahmen. Und selbst das Bundesverfassungsgericht würde daran wohl kaum etwas ändern. Denn, so Uhle, „ein entsprechend geänderter Verfassungstext würde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den nachvollziehbaren Reflex hervorrufen, dass sich die Rechtslage verändert hat: Wer Verfassungsänderungen sät, wird eine geänderte Verfassungsrechtsprechung ernten“ (3).
Solche Warnrufe dürften trotz der klaren Rechtslage die Politiker kaum davon abhalten, ihr Vorhaben weiter zu betreiben und die Warnungen als abstrakt-juristische Panikmache zu verurteilen. Aber für solche Warnungen sprechen empirische Erfahrungen. Paradebeispiel ist dafür Norwegen, wo es sogar jüngst wegen zweier Fälle zu diplomatischen Irritationen kam (4). In deutschen Medien wurde bisher kaum über diese Fälle und ihre Problematik berichtet, eine Ausnahme bildete eine Dokumentation auf Arte (5). Der Hintergrund: 1992 wurden in Norwegen die Kinderschutzbehörden (Barnevernet) professionalisiert, nachdem die Kinderrechte in der Verfassung verankert worden waren. Vorher kümmerten sich auch Freunde und Nachbarn aus den Gemeinden um schwierige Familien, jetzt fast nur noch Psychologen und Sozialarbeiterinnen – mit rechtlich mehr Befugnissen. Seither ist die Zahl der Interventionen der Behörden in Familien drastisch gestiegen, ebenso die der Sorgerechtsentzüge. Kamen im Jahr 2003 noch 6747 Kinder zu Pflegeeltern oder ins Heim, waren es 2011 schon 8485 – eine Zunahme von über 25 Prozent. Der norwegische Anwalt und Menschenrechts-Aktivist Marius Reikerås berichtet, dass mittlerweile etwa 70’000 Kinder unter der Obhut des Barnevernet-Systems sind, das wären 7 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren in Norwegen. Nach offiziellen Angaben sind es aber lediglich 4 Prozent, von denen wiederum 60 Prozent daheim betreut werden (6).
Die Vertreter der Kinderschutzbehörde sind überzeugt, nur zum Besten des Kindes zu handeln. Es herrscht die Überzeugung, das Kind gehöre dem Staat. Viele Kinder hätten in ihrer Herkunftsfamilie keine faire Chance, sich zu entwickeln. Wer die Arbeit der Behörde kritisiere, sei ungebildet und aggressiv, gibt zum Beispiel die Weltwoche (7) die Einstellung der Behörden wider. Professorin Witoszek schreibt dort von der «Tyrannei der Wohlmeinenden», im vielgerühmten Modellstaat Norwegen herrschten glasklare Vorstellungen darüber, was richtige und was falsche Erziehung sei. Selbst leichte Körperstrafen, die in vielen Kulturen an der Tagesordnung sind, werden mit sexuellem Missbrauch in Verbindung gebracht. Eine tamilische Familie kritisierte, auch intensive Zuneigung werde als sexueller Missbrauch interpretiert. Die Regeln seien strikt. Das Kind schlafe nur im eigenen Bett. Süssigkeiten gebe es nur am Wochenende und nicht täglich. Und auch wer sein Kind nach traditionellen Rollenmustern erziehe, mache sich verdächtig. Rollenmuster will man in Norwegen überwinden, «Gender-Mainstreaming» heiße das Zauberwort. Ein Kind gelte als «es» bis es weiss, ob «es» ein Er oder eine Sie sein will. Vielleicht deshalb platzierte die Kinderschutzbehörde ein Kind von Muslimen bei einem homosexuellen Paar. Zwar ändert sich in Skandinavien und vor allem in Norwegen die Meinung in puncto Gender, seit der Komiker Harald Eia mit seinem Film „Das Gender Paradoxon“, die ideologischen Auswüchse entzaubert hat, aber in den Behörden malen die Mühlen langsam. Immer noch gilt: Biologische Elternschaft sei keine notwendige oder genügende Bedingung für die Entwicklung eines Kindes (6). Ob ein Kind bei Pflegeeltern oder den leiblichen Eltern aufwachse, spiele keine große Rolle. Für die Pflegefamilien allerdings schon. Die nämlich erhalten 430?000 Kronen (knapp 50?000 Euro) im Jahr pro Pflegekind, dazu kommen Spesen und Extras wie Ferien am Mittelmeer. Und außerdem, so eine weitere Kritik, profitiere ein riesiger Apparat von Sozialarbeitern, Therapeuten und Psychologinnen vom ganzen System.
Etliche Eltern ziehen angesichts dieser Eingriffe in das natürliche Recht der Eltern vor Gericht. Dort schließt sich dann der Kreis von Theorie und Praxis. Denn wie Jørgen Stueland, der als Anwalt Familien vertritt, denen die Kinder weggenommen wurden, berichtet, stünden sich im Gerichtssaal dann jeweils die Vertreter der Behörde und deren Anwalt, selbstbewusst und voll überzeugt, dass sie das Richtige täten, den Eltern gegenüber, etwa eine zitternde und stotternde Kurdin und deren Mann, beide traumatisiert, denen vorgeworfen werde, ihre Kinder zu schlagen und zu misshandeln. Das wirkliche Problem sei, so Stueland, dass die Fälle jeweils auf den Aussagen von „jungen Frauen“ aufgebaut seien. Jungen Frauen, die in der Oberstufe mittelmäßige Noten hatten und die dann auf einer Fachhochschule Sozialarbeit oder Kinderschutz-Pädagogik studierten, weil es fürs Medizin- oder Psychologiestudium nicht gereicht habe. Das große Problem sei die „Macht dieser Mädchen“, die als Angestellte der Kinderschutzbehörde Entscheide fällen können, die das Leben von vielen Familien für immer verändern (8).
Solche Aussagen müssen dann im Einzelfall mit Fakten belegt oder anders überprüft werden. Aber solche Probleme haben Allgemeincharakter, sie sind keine nordische Eigenart. Die Selbstüberschätzung von Sozialpädagogen erlebt man derzeit auch in Deutschland, etwa am Beispiel der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sozialpädagogen verhindern vielfach, dass das wahre Alter ihrer „Schützlinge“ mit medizinisch sauberen, das heißt die personale Würde achtenden Methoden festgestellt werde. Und die familienindifferente bis familienfeindliche Einstellung vieler Medien (9) begünstigt ein Meinungsklima, für das die Kinder in den angeblich „professionellen Händen“ von Vater Staat besser aufgehoben seien als bei ihren Eltern. Dieser oft von Eigeninteressen und Ideologie geleiteten Hybris würde durch „Kinderrechte in der Verfassung“ noch ein zusätzlicher, mächtiger Hebel verschafft.