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G8 oder G9 – auch eine Frage des Familienlebens

By 15. März 2017März 8th, 2022No Comments

Es waren keine pädagogischen Gründe, die dazu führten, dass an den Gymnasien der westlichen Bundesländer zu Beginn des 21 Jahrhunderts sukzessive das Abitur nach 8 Jahren eingeführt wurde. Die öffentliche Diskussion verwies seinerzeit auf mögliche Wettbewerbsnachteile von „zu alten“ Abiturienten im internationalen Vergleich, auf den Bedarf der Arbeitgeber nach jungen Absolventen und den volkswirtschaftlichen Vorteil eines längeren Erwerbslebens bis zur Rente. Interessant ist in diesem Zusammenhang der geschichtliche Vergleich zwischen den neuen und den alten Bundesländern. Die nationalsozialistische Diktatur hatte das 9-jährige Gymnasium um ein Jahr verkürzt, um schneller an Offiziersanwärter für die anstehenden militärischen Operationen zu gelangen. Im Unterschied zur DDR machte die Bundesrepublik diese Maßnahme rückgängig, was dazu führte, dass nach Kriegsende zwei unterschiedliche Kulturen in Deutschland herrschten, die sich eigenständig weiterentwickelten, wobei auffällig ist, dass das G9 vor allem in den demokratischen Systemen zur Geltung gekommen ist.

Die Einführung von G8 wurde fälschlicherweise als „Schulzeitverkürzung“ bezeichnet, was insofern unzutreffend ist, als die Nettostundenzahl bis zum Abitur im wesentlichen gleich geblieben ist, bloß auf 8 Schuljahre konzentriert wurde. Treffender wäre hier vermutlich der Ausdruck: Schulzeitverdichtung, denn infolge der Reformen dehnte sich der Schultag nun zunehmend auch auf den Nachmittag aus. Im Sinne einer ökonomischen Effizienzlogik sollte kindliche Lebenszeit einer intensiveren Bewirtschaftung zugeführt werden, zunächst gab es „Langtage“ bis schließlich viele Gymnasien durch Fördergelder für den Bau von Mensen geködert, den erzwungenen Ganztag einführten. Was auf den ersten Blick nach einer geringfügigen organisatorischen Veränderung  aussah,bewirkte jedoch eine tiefgreifende Veränderung der schulischen und außerschulischen Wirklichkeit. Die ökonomische Rechnung der Effizienzsteigerung ging nicht auf, da Lernen und Bildung nicht beliebig zu verdichten sind, wie etwa die Kraftstoffzufuhr bei einer Hochdruckbetankung eines Formel Eins Boliden während des Boxenstopps. Die jugendliche Konzentrationsfähigkeit und Auffassungsgabe sind nicht beliebig zu strapazieren, so dass „Entrümpelung der Lehrpläne“, „Rhythmisierungen von Anspannung und Entspannung“, „Doppelstundenmodelle mit A- und B-Wochen“, „kreative Pausen“ und andere kompensatorische Maßnahmen notwendig wurden, die ihrerseits unbewältigte  Folgeprobleme nach sich zogen: Die Entsorgung vermeintlichen Gerümpels beeinträchtigt die Studierfähigkeit der Absolventen, die in Vorkursen an der Universität nachholen müssen, was die Schule versäumt hat. Das A- und B-Wochen-Modell bringt insbesondere Nebenfächer und weitere Fremdsprachen in Schwierigkeiten, einen kontinuierlichen Lernprozess zu ermöglichen und die langen Pausen sind bei weitem nicht so erholsam wie erhofft und verlängern zusätzlich die Verweildauer in der Schule, ohne dass am Nachmittag ebenso intensiv gearbeitet werden könnte wie am Vormittag.

Für das öffentliche Leben in Kommunen hat der Zwangsganztag ebenso gravierende Folgen: Außerschulische Bildung, Sport, Musik, Brauchtum, Vereins- und Glaubensleben oder nur die Pflege von Freundschaften verdichtet sich auf wenige Stunden des Nachmittags, was zu einer kulturellen Verarmung führt. Die Integration dieser Angebote als schulische AGs ist auch keine Lösung, insofern sie gerade der Institutionalisierung von Kindheit Vorschub leistet, zu der diese Lebensorte ja gerade ein Gegengewicht darstellen sollten. Auch das Familienleben leidet unter der Verganztagung. Ein gemeinsames Mahl oder geschwisterliche Unternehmungen am Nachmittag sind unter der Woche kaum noch möglich. Dieser Verlust wird übrigens nicht nur von den oft als rückständig diffamierten traditionellen Familien beklagt, sondern auch von modernen, flexibilisierten Lebensformen, die aufgrund der meist a-rhythmischen Arbeitszeiten auch am Wochenende durch starre Schulzeiten, die eigentlich an frühmodernen Produktionszyklen orientiert sind, am Familienleben gehindert werden. Der Ganztag raubt so oder so gemeinsame Zeit. Norbert Blüm warnte in diesem Zusammenhang schon 2012 vor einer „Enteignung der Kindheit und einer Verstaatlichung der Familie“, durch den „pädagogisch-industriellen Komplex“.[1] Das Turbo-Abi und die schulische Internierung von Kindern erscheinen in dieser Hinsicht als Ausfluß eines ökonomistischen Denkens, dem es um die Verfügbarmachung von Humankapital geht.

Es verwundert also kaum, dass Familien aus unterschiedlichen Gründen das Turbo-Abitur und den starren Ganztag ablehnen, wie aus einer einschlägigen Studie des renommierten Psychologen Rainer Dollase hervorgeht.[2]  Die Politik tut sich jedoch schwer, dem Volkswillen, der sich hier artikuliert, Rechnung zu tragen und die offensichtlich missratenen Reformen rückgängig zu machen. Eine Bürgeriniative engagierter Eltern nutzt deshalb das basisdemokratische Instrument des Volksbegehrens [3], um die Schulzeitverdichtung und den Ganztagszwang aus der Welt zu schaffen. Rund 1 Mio. Unterschriften müssen hierfür bis zum 7. Juni 2017 zusammenkommen, was in Anbetracht der großen Verbesserung der Lebensqualität für viele Familien durchaus aussichtsreich ist. Über das konkrete Anliegen hinaus kann das Volksbegehren als Ausdruck der Wiedergeburt einer demokratischen Kultur gewertet werden, da viele Menschen sich selbst wieder als politische Akteure erleben können. Dies ist in den Zeiten von Lethargie auf der einen oder Populismus auf der anderen Seite durchaus ein Hoffnungssignal.

[1] Blüm, Norbert (2012): Freiheit! Über die Enteignung der Kindheit und die Verstaatlichung von Familie. http://www.zeit.de/2012/12/C-Bluem
[2] Dollase, Rainer: Die „G8 und mehr“ – Umfrage der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW e.V. “. http://www.le-gymnasien-nrw.de/fileadmin/user_upload/Dollase_G8G9_Schlussfassung_2.pdf
[3] https://www.g9-jetzt-nrw.de