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Fachkräfte oder Akademiker: Die „Manpower“, die wirklich fehlt

By 29. Oktober 2013März 24th, 2022No Comments

Die OECD scheint zu lernen: Jahrzehntelang rügte sie das deutsche Bildungssystem, weil es vermeintlich zu wenige Akademiker produziere. Neuerdings lobt sie das duale System der Berufsausbildung, weil es jungen Menschen einen „bemerkenswert reibungslosen“ Übergang von der Schule ins Berufsleben ermögliche (1). Die Realität erzwingt dieses Umdenken: Zu deutlich zeigt die Jugendarbeitslosigkeit in Italien, Spanien und auch in Frankreich, dass akademisierte Ausbildungssysteme keine Gewähr für arbeitsmarktpolitischen Erfolg bieten. Viele Jungakademiker aus Südeuropa suchen Arbeits- und sogar Ausbildungsplätze in Deutschland, um der Perspektivlosigkeit im eigenen Land zu entfliehen.

Gleichzeitig klagen deutsche Unternehmen über zu wenig Auszubildende, viele Lehrstellangebote bleiben offen. Verantwortlich für diesen Lehrlingsmangel ist neben der Demographie auch der Run auf die Hochschulen: Seit den 1990er Jahren hat sich der Anteil der Studenten annähernd verdoppelt – fast jeder zweite Jugendliche beginnt inzwischen ein Studium (2). Wenn sich dieser Trend fortsetzt, zerstört er das duale System – denn „mit 30 Prozent eines Jahrgangs lässt sich die ganze Vielfalt von nichtakademischen Fachkräften nicht mehr ausbilden“ (Julian Nida-Rümelin) (3). Apologeten der Akademikerinflation ignorieren das Problem. Sie kanzeln Experten, die vor den Gefahren der Entwicklung warnen, als Besitzstandswahrer ab, die angeblich nur ihr eigenes Prestige als Akademiker verteidigen wollten. Abgesehen von solchen Argumenten „ad hominem“ verweisen sie auf die besseren Arbeitsmarktchancen von Akademikern im Vergleich zu Nicht-Akademikern (4). Sie unterschlagen dabei allerdings die Heterogenität dieser Großgruppen: Jugendliche ohne Berufsausbildung haben natürlich viel schlechtere Chancen als Akademiker – in dieser Hinsicht unterscheidet sich Deutschland nicht von anderen OECD-Ländern. Dafür sinken aber die Arbeitslosenzahlen von Jugendlichen mit einem Berufsbildungsabschluss in Deutschland deutlich stärker als im OECD-Durchschnitt (5). Entscheidend für den Arbeitsmarkterfolg ist nicht der akademische Abschluss, sondern die Berufsausbildung. Handwerksmeister oder Techniker verdienen oft besser als Germanisten, Soziologen oder auch manche Anwälte.

Ein großer Teil des Zuwachses an Studierenden entfällt nun gerade auf Gebiete, in denen es keinen „Fachkräftemangel“ gibt, wie die Geistes- Sozial- und Rechtswissenschaften (6). Echten Fachkräftemangel gibt es in den Technologien, von denen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands abhängt, wie der Elektrotechnik und dem Maschinenbau (7). Auch in diesen Fächern sind die Studierendenzahlen stark gestiegen. Engpässe gibt es inzwischen weniger bei den Ingenieuren als bei den ausgebildeten Fachkräften: Nach Berechnungen der IHK Stuttgart liegt in der baden-württembergischen Industrie der Anteil der Akademiker an den fehlenden Fachkräften nur bei ca. 15%. Mit anderen Worten: Mehr als 80 Prozent des Fachkräftemangels in der Industrie betrifft nicht akademisch, sondern berufspraktisch Ausgebildete (8).

Ähnlich sieht es im Gesundheitswesen aus: Die Zahl der fehlenden Krankenpfleger(innen) übertrifft die der offenen Ärztestellen bei weitem. In keinem Beruf ist der Fachkräftemangel so eklatant wie bei (Fach-)Krankenpflegern. Die Gründe dafür sind evident: Steigender Bedarf in einer alternden Gesellschaft und damit verbunden hohe physische und psychische Belastungen im Krankenhausdienst, denen eine eher bescheidene Vergütung gegenüber steht. Wenig attraktiv sind zudem die eng begrenzten Aufstiegsmöglichkeiten. Etliche Krankenpfleger(innen) wollen deshalb Mediziner werden. Beim Zugang zum Medizinstudium stoßen sie jedoch auf einen Numerus Clausus, der Schulnoten höher bewertet als praktische Berufserfahrung. Hier zeigt sich der Grundirrtum einer einseitig akademisch ausgerichteten Bildungsideologie: Die Vernachlässigung des Praktisch-Handwerklichen. Wem nützt schon ein Chirurg mit guten Mathematiknoten, aber „linken Händen“? Wohl kaum zufällig ist die Zahl der Medizinstudenten viel weniger gestiegen als die anderer Studiengänge (9). Abstriche an der Ausbildungsqualität künftiger Ärzte kann sich niemand leisten, die Konsequenzen könnten tödlich sein.

(1) OECD lobt duale Berufsausbildung, F.A.Z. vom 06.07.2013, S. 12.
(2)  Vgl. Statistisches Bundesamt: Bildung und Kultur: Nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen, Wiesbaden 2012 (Tab-01.1).
(3)  Julian Nida-Rümelin: Bildungspolitik auf Abwegen, FAZ vom 16.8.2013, S. 7.
(4)  Exemplarisch dafür: Rainer Hank: Studiert was Richtiges, FAZ vom 14.9.2013, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/akademisierungswahn-studiert-was-richtiges-12573967.html. Hier heißt es wörtlich: „Die Warnung vor dem Akademisierungwahn ist Quatsch. Wer studiert, dem geht es besser. Die Warnenden wollen bloß ihren eigenen Status schützen.“ Dass ausgerechnet ein Redakteur des Wirtschaftsteiles der FAZ hier die Fakten schlicht ignoriert, ist schon bemerkenswert.
(5)  Vgl.: Statistisches Bundesamt: Internationale Bildungsindikatoren im Ländervergleich, Wiesbaden 2013, insbesondere S. 22-24.
(6)  Vgl.: Inflation der Hochschulabschlüsse in Deutschland (Abbildung unten).
(7)  Siehe hierzu: http://www.i-daf.org/aktuelles/aktuelles-einzelansicht/archiv/2013/05/28/artikel/akademiker-und-fachkraeftemangel-die-bildungsdoktrin-der-oecd-auf-dem-pruefstand.html.
(8)  Dennis O. Ostwald/Werner Sesselmaier et. al: Analyse von bildungspolitischen Entscheidungen vor dem Hintergrund zukünftiger Fachkräfteengpässe in Baden-Württemberg, S. IV, Stuttgart 2013.
(9)  Vgl.: Inflation der Hochschulabschlüsse in Deutschland/Fächergruppen-Verteilung der Hochschulabschlüsse (Abbildungen unten).