Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe will noch in diesem Jahr über die mehr als ein Dutzend Verfassungsbeschwerden entscheiden, die gegen das am 6. November 2015 vom Deutschen Bundestag verabschiedete „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ (Bundestagsdrucksache 18/5373)[i] angestrengt wurden. Gegen das umstrittene Gesetz, für das in der entscheidenden Abstimmung 360 der 602 anwesenden Bundestagsabgeordneten votierten – 233 stimmten dagegen, neun enthielten sich – und das sich gegen drei weitere konkurrierende Gesetzentwürfe durchsetzte, [ii] liegen mehrere Verfassungsbeschwerden von sogenannten Sterbehilfevereinen, Palliativmedizinern und tödlich Erkrankten vor, die das Gesetz für zu restriktiv halten. Nach Ansicht des aus Ärzten bestehenden Arbeitsbündnisses „Kein assistierter Suizid in Deutschland!“, das sich ebenfalls an das Bundesverfassungsgericht wandte, ist das Gesetz hingegen nicht streng genug. Zudem sei es unvereinbar mit der hippokratischen Ethik.[iii]
Das Gesetz stellt die geschäftsmäßige, das heißt organisierte Förderung der Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe. Vereinen oder Einzelpersonen, die Beihilfe zum Suizid als Dienstleistung anbieten, drohen bis zu drei Jahre Haft, so etwa wenn einem unheilbar Krebskranken geschäftsmäßig ein tödlich wirkendes Medikament überlassen würde. Wer dagegen nicht geschäftsmäßig handelt, einschließlich Ärzte und Angehörige, bleibt auch nach dem neuen Gesetz straffrei. Vor der Verabschiedung des Gesetzes war in Deutschland jegliche Beihilfe zum Suizid straffrei.
Entgegen den sonstigen Gepflogenheiten hat der Deutsche Bundestag inzwischen eine Stellungnahme zu dem Gesetz verfasst und den Gießener Staatsrechtler Steffen Augsberg zum Prozessbevollmächtigten ernannt. Üblicherweise fertigt der Bundestag keine Stellungnahme zu Verfassungsbeschwerden gegen von ihm erlassene Gesetze an. Da das Gesetz jedoch aus einer Abstimmung über mehrere fraktionsübergreifende Gruppenanträge hervorgegangen ist, soll es diesmal eine Ausnahme geben. Wie es weiter heißt, hatte der Rechtsausschuss des Bundestages den wissenschaftlichen Dienst des Bundestags erst Mitte Februar mit der Erarbeitung einer solchen Stellungnahme beauftragt. Da die Frist für die Einreichung der Stellungnahme jedoch bereits am 1. März auslief, verlängerte das BVerfG diese bis Ende April.[iv]
Unterdessen haben die benachbarten Beneluxstaaten Niederlande und Belgien, die 2002 die „Tötung auf Verlangen“ und den „ärztlich assistieren Suizid“ legalisierten und inzwischen auf eine jeweils 15 Jahre währende Euthanasiepraxis zurückblicken, jüngste Zahlen veröffentlicht. Demnach gab es in den Niederlanden laut dem aktuellen Jahresbericht der staatlichen Kontrollkommission für 2016 offiziell 6.091 Euthanasie-Fälle.[v] Das sind rund zehn Prozent mehr als noch 2015 (5.516). Nach Angaben der Kommission machten die Tötungen auf Verlagen vier Prozent sämtlicher Sterbefälle (148.973) im Land aus. Im weitaus größten Teil der gemeldeten Fälle (83 Prozent) seien die Menschen unheilbar an Krebs erkrankt gewesen. Auch Menschen mit Parkinson, Multiple Sklerose oder ALS sind laut dem Bericht von Ärzten auf Verlangen getötet worden. Den Anteil der Demenzkranken bezifferte die Kommission auf rund zwei Prozent.[vi]
Das Königreich der Niederlande hatte am 1. April 2002 als erster Staat weltweit die Tötung auf Verlangen unter bestimmten Bedingungen legalisiert. Voraussetzung ist, dass ein Patient unerträglich leidet, aussichtslos krank ist und mehrfach ausdrücklich um die Tötung auf Verlangen bittet. Die Staatsanwaltschaft wird nur bei Zweifeln an der ärztlichen Entscheidung angerufen. Laut dem „Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“ bleibt der handelnde Arzt straffrei, wenn er die vorgegebenen Sorgfaltskriterien einhält.[vii] Mittlerweile können auch Jugendliche ab zwölf Jahren ihre Tötung durch einen Arzt verlangen, ab einem Alter von 16 Jahren auch ohne Zustimmung der Eltern.
In Belgien haben Ärzte 2015 insgesamt 2.022 Menschen auf Verlangen getötet.[viii] Das entspricht einer Zunahme um 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. 2014 waren es noch 1.928 Tötungen auf Verlagen gewesen. 76 Prozent der Getöteten waren zwischen 60 und 90 Jahren alt. Bei etwa 45 Prozent erfolgt die Tötung auf Verlangen in den eigenen vier Wänden. Bei 68 Prozent der Menschen war der Grund Krebs, gefolgt von verschiedenen unheilbaren Krankheiten (zehn Prozent) und Krankheiten des Nervensystems (sieben Prozent). Drei Prozent litten den Angaben zufolge an einer unheilbaren psychischen Krankheit.[ix]Auch im Königreich Belgien nimmt die Zahl der Tötungen auf Verlangen – das entsprechende Gesetz trat dort am 23. September 2002 in Kraft[x] – kontinuierlich zu. Zwischen 2002 und 2015 wurden dort offiziell insgesamt 12.726 Menschen auf Verlangen getötet. Das ist ein Anstieg um 22 Prozent.[xi] Seit Februar 2014 ist in Belgien zudem – als bisher einzigem Land weltweit – auch die Tötung auf Verlangen von Minderjährigen legal und das ohne jede Altersbegrenzung.[xii] Das war bisher eine Art Tabu-Bereich.
Die Zahlen und Erfahrungen lassen den Schluss zu: Da wo Euthanasie legalisiert, also gesetzlich liberalisiert wird, steigt die Zahl der Fälle kontinuierlich und gehen die Fälle auch in Bereiche, die als Tabu galten. Gesetze schaffen Kultur, in diesem Fall normieren sie die Kultur des Todes.