Es ist sehr einfach, Gegner zu widerlegen, denen man abwegige Thesen zuschreibt, die sie gar nicht vertreten. Auf diese Weise werden auch Schein-Kontroversen um Demografie, Familie und Kinder geführt. So verlautbarte jüngst eine Autorin des Jahrgangs 1978, dass die „Art und Weise, wie über die Gründe des demographischen Wandels gesprochen wird“, sie „wütend“ mache, weil sie die „Ursachen ganz bequem beim Individuum“ suche. Die niedrige Geburtenrate gehe nicht auf egoistische „Akademikerinnen im Gebärstreik“ zurück, sondern sei eine „Gemeinschaftsfehlleistung von Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien“, die es versäumt hätten, die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ herzustellen (1). Nichts anderes vertrat die seinerzeitige Familienministerin Renate Schmidt (SPD) schon vor über einer Dekade, als sie ihre sog. „nachhaltige Familienpolitik“ etablierte. Sie propagierte das Leitbild der erwerbstätigen Mutter und initiierte einen umfassenden Ausbau der Kinderbetreuungsinfrastruktur, den ihre Amtsnachfolgerinnen fortsetzen (2). Dafür ist viel Geld ausgegeben worden.
Im Ergebnis ist so der Anteil der institutionell betreuten unterdreijährigen Kinder in den westdeutschen Flächenländern von wenigen Prozent (3-4) auf 24 (Nordrhein-Westfalen) bis 31 Prozent (Rheinland-Pfalz) gestiegen. In den Stadtstaaten Hamburg und Berlin liegt die Quote bei 43 bzw. 46 Prozent, in den neuen Bundesländern noch höher, Spitzenreiter ist Sachsen-Anhalt mit 58,3 Prozent (3). Wesentlich aussagekräftiger sind die Quoten nach dem Kindesalter differenziert: Im Säuglingsalter (<1) sind die Quoten sehr gering (2-5%) – was ja auch der Intention des Elterngeldes entspricht, das die Betreuung durch die Eltern unterstützt. Sehr unterschiedlich sind die Quoten bei den 1-2-Jährigen – zwischen 20 Prozent in Rheinland-Pfalz und über 76 Prozent in Sachsen-Anhalt. Von den 2-3jährigen Kindern besucht inzwischen die Mehrheit eine „Kita“, bei 53 Prozent liegt die Quote in Westdeutschland, bei rund 87 in Ostdeutschland, Spitzenreiter ist wiederum Sachsen-Anhalt (mehr als 90 Prozent) (4).
Nimmt man Ostdeutschland als Maßstab, dann ist Westdeutschland in der öffentlichen Kinderbetreuung im „Rückstand“. So wird es immer wieder dargestellt, aber unterschlagen, dass Ostdeutschland in Europa eine Ausnahme ist: Allenfalls Dänemark und Schweden haben ähnliche Versorgungsgrade, in Frankreich liegen sie schon niedriger, erst recht gilt dies für Großbritannien, die Niederlande und Irland (5). Dass diese Länder höhere Geburtenraten haben als Deutschland, im Osten wie im Westen, hat offensichtlich andere Gründe als Kindertagesstätten. Ob es mit der „Vereinbarkeit“ in diesen Ländern besser steht, weil die Arbeitgeber „familienfreundlicher“ und die Männer in der Familienarbeit fleißiger sind, erscheint fraglich. Aber selbst wenn dies so wäre: Auch dort haben junge Frauen weniger Kinder als ältere Frauen, die „traditionelleren“ Lebensentwürfen folgten. Überall sind die Geburten zurückgegangen, nicht trotz, sondern wegen der sog. „Modernisierung“. Ein zentraler Grund dafür ist, dass Frauen immer später mit der Familiengründung beginnen: Das Alter, in dem Frauen ihr erstes Kind bekommen, ist drastisch angestiegen: In Deutschland ist es seit 1970 von 24 auf über 29, in Dänemark von knapp 24 auf über 28 und in Frankreich von 24,4 auf 28,4 Jahre im Jahr 2013 gestiegen (6). In Mittelosteuropa lag dieses Erstgeburtsalter bis 1990 wesentlich niedriger als in Westeuropa, in Polen und Tschechien z. B. bei ca. 23 Jahren (7). Die frühe Familiengründung war typisch für realsozialistische Verhältnisse, so auch in der DDR. Seit 1990 ist nun auch in diesen Gesellschaften das Erstgeburtsalter stark angestiegen, es hat zwar noch nicht ganz, aber doch schon annährend das westeuropäische Niveau erreicht.
Es ist überall dasselbe Muster: Junge Menschen schieben die Entscheidung für Kinder und Familie immer weiter auf, die Ansprüche an Ausbildung, Flexibilität, Mobilität im „digitalen Kapitalismus“ fordern ihren Preis. Es ist ein Wucherpreis, insbesondere dann, wenn der Lohn für lange und fordernde Zeiten der Ausbildung, Jobsuche und Einarbeitung ausbleibt, wie dies die jüngere Generation in Südeuropa zu erleiden hat. Die Jahre, die diese Generation jetzt verliert, sind für viele Familiengründungen verloren (8). Der Kindermangel verschärft sich, die Abwärtsspirale dreht sich weiter. Hier wird an der Zukunft gespart und zwar überall. Das kann kein Kita-System ausgleichen.