Ein Gespräch über jugendliche Gewalt: Ursachen, Umfeld, Lösungsansätze
Aus gegebenem Anlass – gewaltsame Ausschreitungen während der Europa-Fußballmeisterschaft durch jugendliche Fans sowie Gewalttaten bei Demonstrationen – erinnern wir an die Symposien, die das Idaf zum Thema „Bindung – Bildung – Gewaltprävention“ in Dresden und München abgehalten hat (siehe Veranstaltungen). Wer bei Gewaltproblemen von Jugendlichen Lösungen sucht, kann nicht nur mit repressiven Maßnahmen operieren. Wie komplex die Ursachen- und Lösungssuche ist, zeigt das Interview auf, das der damalige Vorsitzende des Idaf, Dr. Heinz-Georg Ley, anlässlich des Symposiums im Landtag von Sachsen im Juni 2011 verschiedenen Zeitungen gab. Wir veröffentlichen eine leicht redigierte Zusammenfassung.
Die Kriminalstatistiken zeigen seit geraumer Zeit einen recht kontinuierlichen Rückgang der Jugendgewalt in Deutschland – auch wenn aufsehenerregende Einzelfälle mitunter ein anderes Bild entstehen lassen. Warum erachten Sie das Thema trotzdem als besonders diskussionswürdig und was möchten Sie mit dem Symposium erreichen?
Dr. Heinz-Georg Ley: Die Zahlen sind in der Tat leicht rückläufig. Aber wie bei den Verkehrstoten, deren Zahlen gottseidank auch sinken, jedes Opfer zuviel ist, so ist es auch bei der Jugendkriminalität. Hier kommen aber noch zwei weitere Aspekte hinzu: Es geht auch um unsere Zukunft – die steckt in unseren Kindern – und um die Stimmung in unserer Gesellschaft. Wir fragen uns: Wollen wir eine repressive oder eine solidarische Gesellschaft? Ist uns wirklich jedes Kind wichtig, wie die Politiker gern sagen?
Jugenddelinquenz hat es schon immer gegeben und aus einer Entwicklungsperspektive betrachtet ist sie in einem gewissen Maße sogar ein „normales“ Phänomen in der schwierigen Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen. Wie hat sich Ihrer Meinung nach die Jugendkriminalität bzw. -gewalt in den letzten Jahrzehnten verändert und worin sehen Sie die Ursachen dafür?
Sie ist brutaler und jünger geworden. Ein Grund dafür ist sicher in der Reizüberflutung der Medien zu sehen. Ich möchte keine Medienschelte betreiben. Aber ich appelliere an das ethische Bewusstsein, wenn Sie so wollen an das Gewissen, der Journalisten: Denken Sie bitte auch an die Kinderseelen, wenn Sie Ihre Artikel schreiben. Fragen Sie sich bei der Berichterstattung, ob die Medienkonsumenten jedes grausame Detail, jeden verwerflichen Satz, jede Brutalität und Perversion serviert bekommen müssen. Einen zweiten Grund sehe ich in der abnehmenden Elternkompetenz. Das hat auch damit zu tun, daß Eltern nicht mehr so viel Zeit für die Erziehung aufwenden (können) wie noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren. Ein dritter Grund ist der Alkohol. Seine enthemmende Wirkung legt eigentlich nur andere Probleme frei, die meistens lange vorher entstanden sind.
Was halten Sie eigentlich von einem „Elternführerschein“? Das Thema wird zwar eher im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung diskutiert, passt aber genauso zur Prävention von Jugendkriminalität.
Wir müssen die Elternkompetenz stärken, das gehört zur Prävention. Das Problem ist aber komplex. Viele Eltern von delinquenten Jugendlichen sind mit sich und dem Leben überfordert. Ich will das nicht beurteilen, schon gar nicht verurteilen. Aber ich stelle fest, dass die Familien allgemein in diesem Land in den letzten Jahren nicht gut behandelt wurden. Die „strukturelle Rücksichtslosigkeit“, von der der große Soziologe Franz-Xaver Kaufmann sprach, ist in diesem Land hautnahe Realität. Die Politik in Berlin hat die wirtschaftliche Basis der Familie geschmälert, sie hofiert Randgruppen und verschmäht die Arbeit der Mütter. Der soziale und wirtschaftliche Druck auf Familie, besonders auf schwache Familien, ist gestiegen und auch hier sind viele Medien nicht unschuldig. Eltern haben, wie gesagt, weniger Zeit als früher, um zu erziehen. Man gaukelt ihnen vor, mit „quality time“, etwa eine intensive Stunde am Abend, lasse sich eine gesunde Beziehung aufbauen. Ohne Beziehung, ohne Bindung aber sind Jugendliche losgelassen. Bindungen bedeuten auch emotionale Kontrolle, sie führen zur Selbstkontrolle. Sie sind keine Garantie für Gewaltfreiheit, aber ein hohes Hemmnis vor Gewalt. Deshalb muß man den Eltern mehr Zeit geben für die Kinder. Auch wenn einige Eltern diese Zeit nicht nutzen, berechtigt das noch nicht zu einer Verurteilung aller Eltern. Wenn ein Artikel über dieses Symposium schlecht ist, weil der Journalist den ganzheitlichen Ansatz nicht versteht und mehr so plakative Thesen hören möchte wie „Knast ab 10“, dann sind deshalb nicht alle Journalisten schlecht und ich hoffe ja, dass auch sachliche Berichte erscheinen.
Bei wem ist aus Ihrer Sicht die Schuld zu suchen, wer trägt die Verantwortung, wenn ein junger Mensch mit gesellschaftlichen Regeln bricht, kriminell und gewalttätig wird: nachlässige Behörden, eine zu lasche Justiz, unfähige Eltern, überforderte Lehrer, die Dynamik in einer Gruppe, etwa von Fußballfans?
Der begnadete Aphoristiker Johannes Gross hat einmal gesagt: Die Deutschen diskutieren immer theologisch, sie suchen immer Schuldige. Es geht nicht um Schuld, sondern um Lösungen. Deshalb würde ich sagen: Die Behörden sollten aufmerksamer hinschauen, die Justiz sollte sich um mehr Gerechtigkeit bemühen, die Eltern müssen ihre wichtigste Aufgabe, ihre Kinder gut zu erziehen, ernster nehmen, die Lehrer müssen entlastet werden, die Sportvereine sollten das Gespräch mit Fangruppen pflegen und ausbauen. Die Ursachen sind immer vielfältig, wenn es um gesellschaftliche Probleme geht. Daher unser Ansatz, keine monokausalen Ursachenforschung zu betreiben, sondern die Zusammenhänge sehen und im Verbund mit vielen Beteiligten Lösungen zu suchen.
Der herausragende Einfluss des familiären Umfeldes auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist wissenschaftlich unstrittig. Das bedeutet auch: Zerrüttete Familien sind Gift für eine gesunde Entwicklung und der Nährboden für späteres antisoziales Verhalten. Deshalb fordern manche Psychologen und Therapeuten im Ernstfall ein möglichst frühes und konsequentes Eingreifen des Staates – also auch flächendeckende Kontrollen und gegebenenfalls ein frühes Herausnehmen des Kindes aus der Familie. Wie stehen Sie dazu?
Wenn der Einfluss des familiären Umfeldes auf die Entwicklung wissenschaftlich unstrittig ist, dann ist es logisch, dieses Umfeld zu verbessern. Dafür plädieren wir. Natürlich gibt es zerrüttete Familien. Aber das Urteil darüber, ob eine Familie zerrüttet ist, darf nicht leichtfertig gefällt werden, eben wegen der herausragenden Bedeutung der Familie. Die Trennung des Kindes von seiner Familie muss die ultima ratio sein. Das Wort von den flächendeckenden Kontrollen gefällt mir nicht. Hier schwingt mal wieder zu viel Misstrauen gegenüber den Familien mit. Die Kinder und Jugendlichen brauchen gute Vorbilder und Wertmaßstäbe. Das findet man nicht unbedingt in Heimen oder Amtsstuben. Noch einmal: Die nachhaltigste Prävention ist die Förderung der Elternkompetenz. Bei den Eltern muss man ansetzen und wenn die total ausfallen, dann muss man Ersatz finden. Ohne menschliche Beziehungen wird es nicht gehen. Es gibt eine sehr schöne Definition von Erziehung: „Erziehung ist Beschenkung mit Menschlichkeit“. Wenn das gelingt, bekommt man kriminelle Jugendliche auch wieder von der schiefen Bahn herunter. Das gilt für die allermeisten irregeleiteten Jugendlichen. Bei den Extremfällen müssen Experten ran, fragen Sie mal Professor Neufeld.
Im Rahmen des Symposiums sollen verschiedene Faktoren diskutiert werden, die die Entstehung von Jugendkriminalität befördern. Am Ende soll daraus abgeleitet ein Präventionsansatz stehen. Was sind die zentralen Säulen dieses Ansatzes?
Der Titel des Symposiums nennt sie: Bindung und Bildung. Sie können auch sagen: Liebe und Persönlichkeitsbildung. Man kann es auch so interpretieren: Eine gelungene Bindung ermöglicht bessere Bildung und damit auch mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt und Vermeidung von Armut. Es gibt ein tragisches Dreieck der Jugendkriminalität: Fehlende Bindung, fehlende Bildung, fehlende Vorbilder. Der Inhalt des Dreiecks ist die Armut. Armut als Mangel an Anerkennung und Liebe, Armut als Mangel an Wohlstand, als materielle Armut, was Neid und Hass gebiert. Diese Zusammenhänge wollen wir bewusst machen. Dafür brauchen wir die Eltern, die Lehrer, die Erzieher, Politik und auch die Medien. Wenn wir hier keine Fortschritte erzielen, steuern wir geradeaus in eine brutale, barbarische Gesellschaft.