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Buch des MonatsEmpfehlung

Solidarität ist nicht dasselbe wie Nächstenliebe

By 13. Juli 2020März 14th, 2022No Comments
Buch des Monats, Solidarität ist nicht dasselbe wie Nächstenliebe, 13.07.2020

Was gebietet die Solidarität angesichts der neuen Völkerwanderung? Ein Schuldbekenntnis, dass Europa mitverantwortlich sei für die Gewaltverhältnisse, die die Migration verursachen und dass es nun „eine historische Rechnung“ für die Ausbeutung seiner Kolonien bezahle? Die Grenzen zu öffnen und jeden aufzunehmen, der einreisen will? Schiffe ins Mittelmeer zu entsenden und die geretteten Flüchtlinge nach Europa zu bringen? Ist die Strategie der vier Imperative „Aufnehmen, Schützen, Fördern, Integrieren“, die die 20 Handlungsschwerpunkte des Heiligen Stuhls für die beiden Abkommen (Global Compacts) der Vereinten Nationen zu Flüchtlingen und Migranten und auch die Botschaft von Papst Franziskus zum Weltfriedenstag 2018 bestimmt haben, ein Gebot der Solidarität, mithin eine logische Konsequenz der katholischen Soziallehre? Gibt die Bibel die Antwort vor, wie ein Pastoraltheologe suggerierte?

Was ist Solidarität? Solidarität ist ein Bewusstsein wechselseitigen Verbunden-Seins und Verpflichtet-Seins. Der Begriff kommt vom lateinischen „solidare“ und meint verstärken, verdichten, fest zusammenfügen. In der politischen Philosophie und in der Sozialethik bringt der Begriff die Tatsache zum Ausdruck, dass die Menschen aufeinander angewiesen sind – nicht nur in Familie und Gemeinde, sondern auch in Gesellschaft, Staat und internationalen Beziehungen. Dieses Aufeinander-Angewiesen-Sein ist nicht allein negativ zu verstehen, als seien die Menschen nur deshalb aufeinander angewiesen, weil sie nur so ihre jeweiligen Schwächen und Defizite ausgleichen können. Die positive Perspektive: Sie sind auch aufeinander angewiesen, um ihre Anlagen und Fähigkeiten in die sozialen Beziehungen

einzubringen und einander zu bereichern. Jeder Mensch ist nicht nur Mängelwesen oder Bettler, sondern auch Mäzen, auf Hilfe angewiesen, aber auch „für das Geschenk geschaffen“. Solidarität ist wie die Subsidiarität eine zentrale Möglichkeitsbedingung des Gemeinwohls. Sie ist, schrieb Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis 1987, „nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberflächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah und fern“, sondern „im Gegenteil, … die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen“. Das Gemeinwohl ist die Gesamtheit der politischen und sozialen Möglichkeitsbedingungen der personalen Entfaltung des menschlichen Lebens.

Solidarität ist nicht dasselbe wie Nächstenliebe. Sie ist „ihrer Tendenz nach utilitaristisch … Solidarität rechnet mit Solidarität, Nächstenliebe rechnet nicht“. Alle Systeme der Kranken-, Unfall- und Altersversicherung im Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland dokumentieren diese „rechnende“ Solidarität. Solche Versicherungssysteme beschäftigen denn auch eher Mathematiker als Theologen oder Philosophen. Solidarität strebt deshalb nach Regelhaftigkeit und rechtlicher Verfassung. Auch rechtliche Regelungen der Migration oder Solidaritätszuschläge“ in der Einkommens- und Körperschaftssteuer zur Bewältigung der Probleme der Wiedervereinigung Deutschlands beruhen auf dieser rechnenden Solidarität.

Solidarität ist sowohl eine Tugend als auch ein Strukturprinzip staatlicher Ordnung. Sie ist die Fähigkeit und die Bereitschaft des Einzelnen, die Würde und die Rechte der Mitmenschen anzuerkennen und diese Anerkennung in der eigenen Lebensführung und im Handeln zum Ausdruck zu bringen – auch gegenüber Flüchtlingen und Migranten sowie seitens der Migranten gegenüber der Gesellschaft des Aufnahmelandes. Zugleich ist Solidarität ein Ordnungsprinzip in Gesellschaft und Staat, das der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit dient. Deshalb hat die Rechts- und Verfassungsordnung eines Staates Strukturen und Institutionen vorzusehen, die geeignet sind, Solidarität unabhängig von täglichen Willensentscheidungen des Bürgers zu realisieren. Nicht nur die Institutionen der

Sozialversicherung, auch zahlreiche andere Institutionen von den Bildungseinrichtungen und der Schulpflicht über die Streitkräfte bis hin zu den Finanzämtern sind eine logische Konsequenz des Solidaritätsprinzips. Der Staat als der größte verfasste Solidarverband ist selbst Ausdruck der Solidarität. Er wird konstituiert durch ein Volk, ein umgrenztes Territorium und eine Verfassung, der eine gemeinsame Idee von Freiheit, Gerechtigkeit und politischer Willensbildung zugrunde liegt, sowie durch eine entscheidungs- und durchsetzungsfähige Staatsgewalt. Der Staat ist ebenso Bedingung wie Ergebnis einer funktionierenden Rechts- und Verfassungsordnung.

Die Flüchtlinge im Herbst 2015 flohen aus Staaten, die ihrer Ordnungsfunktion nicht gerecht wurden, in Staaten, deren Rechts- und Verfassungsordnung funktionierte und in der Lage war, ihnen Schutz zu bieten. „Flüchtlinge überwinden … nicht nur Grenzen, sie flüchten, wenn sie Schutz vor Verfolgung suchen, gerade auch hinter eine Grenze, weil nämlich nur eine territorial umgrenzte Herrschaft ein realistisches Schutzversprechen abgeben kann“. Der weit verbreiteten Ansicht, „Grenzen, die nicht für alle Menschen durchlässig sind“, seien eigentlich überholt und jedenfalls „inhuman“, ist entgegenzuhalten, dass es einen Staat ohne Grenzen und ohne Grenzregime nicht geben kann und dass Rechtssicherheit nur von Institutionen gewährleistet werden kann, die für ein definiertes Gebiet zuständig sind. Die Kontrolle der Staatsgrenzen ist deshalb eine conditio sine qua non, um die neue Völkerwanderung zu bewältigen.

Welche Gründe sprechen gegen das undifferenzierte Aufnehmen, Schützen, Fördern und Integrieren, mithin für die Kontrolle der Grenze und die Unterscheidung der Flüchtlinge? Der erste Grund: Die Notwendigkeit, zwischen Verfolgten, Kriegsflüchtlingen und Migranten zu differenzieren. Diese Differenzierung ist die Voraussetzung, um bei der Bewältigung der Völkerwanderung sowohl der Not der Flüchtlinge als auch dem Recht und der Pflicht jedes Staates auf Kontrolle seiner Grenzen, mithin dem Gemeinwohl des Einwanderungslandes gerecht zu werden. … Die Schwierigkeiten, zwischen Flüchtlingen und Migranten zu unterscheiden, sind kein Grund, diese Unterscheidung zu unterlassen. Wer auf Grund seiner Volks- oder Stammeszugehörigkeit, seiner Rasse, seines Geschlechts oder seiner Religion verfolgt wird, hat das Recht auf Asyl, solange die Verfolgung anhält. Aus dem Recht auf Asyl kann aber kein Recht auf Familiennachzug abgeleitet werden. Ein solches Recht kennt weder Art. 16a GG noch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Der Familiennachzug in Deutschland ist im Asylrecht und im Aufenthaltsgesetz geregelt, das einer Anpassung bedarf, wenn der Familiennachzug die Zahl der Flüchtlinge von 1,5 auf vier oder fünf Millionen vermehren würde. Die Forderung des Heiligen Stuhls nach einer Familienzusammenführung „einschließlich Großeltern, Geschwistern und Enkelkindern“ ist deshalb nicht nur unrealistisch, sie erschwert auch die Aufnahme von Flüchtlingen. Wer vor einem Krieg flieht, hat das Recht auf Schutz, solange der Krieg dauert, und die Pflicht zur Rückkehr, wenn der Krieg beendet ist. Diese Pflicht ist nicht abhängig vom Grad der Zerstörung bzw. des Wiederaufbaus des Herkunftslandes oder vom Grad der Integration in das Fluchtland. Bei den Kriegen auf dem Balkan nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens Anfang der 1990er Jahre war dies ein bewährter Grundsatz.

Armut, wirtschaftliche Not oder die Auswirkungen von Krisen und Kriegen reichen „ebenso wenig für die erfolgreiche Berufung auf das Asylrecht aus wie die Flucht vor politischer Instabilität“. Wer vor dem Krieg in Syrien und im Irak in ein Flüchtlingslager der Türkei, des Libanon oder Jordaniens geflohen ist, hat dort bereits Schutz gefunden. Wer aus einem solchen Flüchtlingslager weiterzieht nach Europa, „mutiert vom Bürgerkriegs- zum Wirtschaftsflüchtling“. Ihm ist kein Vorwurf zu machen. Sein Verhalten ist „rational und völlig legitim. Ebenso legitim ist es aber, dass potentielle Aufnahmestaaten Schutz vor Verfolgung und (Bürger-) Krieg suchende Flüchtlinge einerseits und Armuts- und Arbeitsmigranten andererseits unterschiedlich behandeln“, dass sie zum Beispiel nur zeitlich befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilen, Sperrfirsten für Arbeitserlaubnisse vorgeben und keine Integration anstreben. Eine zeitliche und inhaltliche Beschränkung des Schutzes dient nicht nur dem Selbstschutz des Aufnahmelandes, sondern dem Schutz der Flüchtlinge selbst. Die Forderung in den 20 Handlungsschwerpunkten des Heiligen Stuhls, Migranten, Asylbewerbern und Flüchtlingen ein Recht auf freie Wahl ihres Wohnortes und ebenso ein Recht auf Arbeit zu gewähren, ist weder realistisch noch durch die katholische Soziallehre gedeckt, die kein gegen einen Staat durchsetzbares Recht auf Arbeit kennt. Diese Forderung schadet dem Schutz der Flüchtlinge. … Auch die Reichweite eines effektiven Flüchtlingsschutzes ist letztlich eine Funktion der staatlichen Potenz“. Die Genfer Flüchtlingskonvention räumt weder ein subjektives Recht auf Migration noch einen Anspruch auf Einreise ein.

Eine universell verbürgte und unbegrenzte Schutzpflicht für alle Flüchtlinge würde, so Udo Di Fabio in seinem Gutachten zur Flüchtlingskrise vom 8. Januar 2016, „die Institution demokratischer Selbstbestimmung und letztlich auch das völkerrechtliche System sprengen, dessen Fähigkeit, den Frieden zu sichern, von territorial abgrenzbaren und handlungsfähigen Staaten abhängt“. Winfried Kluth nennt in seinem Gutachten für den 72. Deutschen Juristentag 2018 in Leipzig die Begrenzung der Zuwanderung „eine unverzichtbare Bedingung für das Gelingen der Integration und die Gewährleistung einer dauerhaften Akzeptanz humanitären Schutzes in der Gesellschaft“. Es gebe weder im Verfassungsrecht noch im Völkerrecht eine Pflicht zu unbegrenzter Solidarität.

Der Schutz der Handlungsfähigkeit des Aufnahmestaates gebietet die Relativierung der vier Imperative „Aufnehmen, Schützen, Fördern und Integrieren“. Dies gilt aber nicht nur im Hinblick auf die Armuts- und Arbeitsmigranten, bei denen jeder Staat das Recht hat, zu fragen, ob sie Qualifikationen mitbringen, die auf dem Arbeitsmarkt gesucht werden und ob sie bereit und fähig sind, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren oder spezifische Schulungsprogramme erfolgreich zu durchlaufen, sondern auch im Hinblick auf Menschen, die Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen. Auch bei ihnen muss der Aufnahmestaat „reale Kapazitäten wie praktische Folgen … in Rechnung stellen“, wenn er die Menschenwürde wirksam achten und schützen soll. Kapazitätsprobleme der Aufnahmeländer durch in Brüssel beschlossene Umverteilungsquoten lösen zu wollen, scheitert nicht nur an der Weigerung der mitteleuropäischen Länder, Flüchtlinge aufzunehmen, sondern bereits am Willen der Flüchtlinge, die nicht nach Ungarn, Kroatien, Bulgarien oder Rumänien wollen, sondern nach Deutschland, Österreich, Schweden oder Großbritannien. Wer nach den praktischen Folgen der unkontrollierten Einwanderung von 1,5 Millionen Flüchtlingen fragt, hat eine Reihe weiterer Aspekte zu beachten: die Bereitschaft und die Fähigkeit der Flüchtlinge zur Integration, zur Beachtung der Verfassungs- und Rechtsordnung und der Landesbräuche. Er hat die Religion, die Kultur, die Gesundheit, das Alter und nicht zuletzt die persönliche Vita der Flüchtlinge zu beachten. Alle Aspekte hängen untereinander zusammen. Sie sind gemeinwohlrelevant und haben Folgen für den Aufnahmestaat. Ein Land, das bei der Einreise auf jede Kontrolle verzichtet, schadet sich selbst und den Flüchtlingen.

Wenn rund 70% der Flüchtlinge Muslime sind, kann die Frage nach der Integrationsfähigkeit des Islam nicht mit Verweis auf den säkularen Staat, der alle Religionen gleich behandelt und die Religionsfreiheit achtet, abgetan werden. Gewiss sind Menschen in Lebensgefahr ungeachtet ihrer Religion oder Kultur zu schützen, solange die Gefahr anhält. Aber wenn die Lebensgefahr überstanden ist, ist die Prüfung der Integrationsfähigkeit und der Integrationsbereitschaft der Flüchtlinge notwendig. Hilfe in Lebensgefahr beinhaltet noch kein Bleiberecht.

Dass die Integrationsfähigkeit und -bereitschaft von Muslimen ein Problem ist, ist seit der Anwerbung türkischer Gastarbeiter Anfang der 1960er Jahre bekannt. Rund 900.000 Menschen kamen bis zum Stopp der Anwerbung 1973 nach Deutschland. Die Annahme, sie würden das Land wieder verlassen, wenn ihre Arbeitskraft nicht mehr gebraucht und der Arbeitsvertrag beendet wird, hat sich als falsch erwiesen.  Etwa 40% sind geblieben. Viele haben sich integriert, viele haben sich aber auch in der zweiten und dritten Generation nicht integriert, sprechen nicht Deutsch und neigen dazu, Parallelgesellschaften zu bilden. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu den koreanischen Gastarbeitern, die um die gleiche Zeit angeworben wurden, sowie zu den vietnamesischen Flüchtlingen der 1970er Jahre, die auch nach dem Ende des Krieges nicht in ihre kommunistische Heimat zurückkehren konnten und sich sehr gut integriert haben. Je strenger der Islam interpretiert und gelebt wird, desto schwieriger wird die Integration. Die Scharia ist, ungeachtet mancher Behauptungen deutscher Muslimverbände, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Sie steht auch in den islamischen Menschenrechtserklärungen über den Menschenrechten. In der Kairoer Erklärung über die Menschenrechte im Islam von 1990, die in vielem den Menschenrechtserklärungen der Vereinten Nationen und des Europarates gleicht, heißt es in Art. 24: „Alle in dieser Erklärung aufgestellten Rechte und Freiheiten unterliegen der islamischen Scharia“, und in Art. 25: „Die islamische Scharia ist der einzige Bezugspunkt für die Erklärung oder Erläuterung eines jeden Artikels in dieser Erklärung“. Damit wird alles annulliert, was zuvor wortreich versprochen wurde. Im Gegensatz zu den Regierungen in mitteleuropäischen EU-Staaten tat sich die Bundesregierung schwer, dies anzuerkennen.

Wer in der Migrationspolitik für kulturell differenzierte Zuwanderungsrechte eintritt, weil er die soziale Kohäsion der Gesellschaft und ihr Recht, den eigenen Lebensstil und die eigenen Bräuche zu pflegen, schützen will, wie der englische Ökonom Paul Collier, verdient deshalb noch nicht den Vorwurf, der christlichen Sozialethik zu widersprechen. Schon Thomas von Aquin hat die Frage nach der Aufnahme Fremder in das bürgerliche Gemeinwesen unter Verweis auf die „Politik“ des Aristoteles differenziert beantwortet und Schranken je nach kultureller Nähe und Gemeinwohlkompatibilität für legitim gehalten. Auch die Frage, ob in der Nächstenliebe differenziert werden darf, hat er unter Verweis auf Augustinus bejaht: Die „nächsten Anverwandten“ seien mehr zu lieben als ferner Stehende. Zu den praktischen Folgen der unkontrollierten Einwanderung gehörte auch das in der Politik lange ignorierte Problem der Fortsetzung der Spannungen zwischen Muslimen und Christen in den Flüchtlingslagern, genauer das Mobbing der Christen durch Muslime. Schließlich gehörten zu den Flüchtenden nicht nur Opfer der Kriege, sondern auch Täter. Ein besonderer Schutz der Christen in den Zentren wurde lange Zeit nicht für notwendig gehalten. Auch die Kölner Silvesternacht 2015 traf die Behörden und die Polizei unvorbereitet. Die Achtung der Rechtsordnung und der Bräuche des Aufnahmelandes durch die Flüchtlinge wurde erst spät als deren Solidaritätspflicht entdeckt.

Die deutsche Grenzöffnung im Herbst 2015 entfaltete eine Sogwirkung auf die Menschen in den Kriegs- und Notstandsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens und Afrikas. Die Bundesregierung hat die Völkerwanderung 2015, so Hans-Peter Schwarz, „wohlmeinend, aber völlig unüberlegt mit verschuldet“. Peter Turkson, Kardinal aus Ghana, der das 2017 gegründete vatikanische Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen leitet, zu dem auch die ziemlich autonom agierende und von Papst Franziskus selbst geleitete Sektion für Migranten und Flüchtlinge gehört, warnte im Juni 2018 vor der Politik der offenen Türen. Sie würde die afrikanischen Staaten ihres wichtigsten Kapitals, nämlich ihrer Jugend berauben. Europa solle besser vor Ort helfen, um die Migration zu vermeiden. Robert Sarah, Kardinal aus Guinea, mahnte im April 2019, die Massenmigration nicht mit der Bibel zu begründen. Sie sei eine neue Form der Sklaverei. Man solle vielmehr den Menschen helfen, sich in ihren eigenen Kulturen zu entfalten. Die Sogwirkung der Grenzöffnung wurde verstärkt durch die Reaktion auf die verunglückten Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer, die Bereitstellung von staatlichen und privaten Schiffen zur Rettung von Flüchtlingen und zum Transfer auf das europäische Festland. Diese Schiffe wurden unfreiwillig zu einem wichtigen Glied in der Schleuserkette. Effektiver für die Bewältigung der neuen Völkerwanderung und die Bekämpfung der Schleuserbanden wären die Kontrolle der Flüchtlinge an der nordafrikanischen Küste, die Kontrolle der Küste selbst, der Transfer geretteter Flüchtlinge zurück in die Ausgangsländer, soweit sie nicht gescheiterte Staaten sind wie Libyen, die Unterstützung der UN-Nahrungsmittelhilfe für die Lager in der Türkei, im Libanon und in Jordanien und vor allem die von den afrikanischen Bischöfen geforderte Hilfe vor Ort, um die Migration einzudämmen. Auch die Regierungen der Herkunftsländer der Flüchtlinge sind an ihre Pflichten zu erinnern, ihre Bürger am Aufbau des Gemeinwohls zu beteiligen, um ihren Exodus zu vermeiden.

Die Berücksichtigung der Entwicklungsinteressen der Herkunftsländer sollte deshalb, so Winfried Kluth in seinem Gutachten für den 72. Deutschen Juristentag 2018, bereits in die programmatischen Regelungen des § 1 Abs. 1 AufentG Eingang finden, weil nur eine „abwägende Steuerung der Migration nachhaltige Zustimmung in einer offenen demokratischen Gesellschaft (findet)“. Von Abwägungen ist die Migrationsdebatte in Deutschland und nicht zuletzt in den Kirchen aber noch weit entfernt. Die politische Debatte wird als moralische Debatte geführt. Das erlaubt die Exkommunikation des Andersdenkenden. „Offene Grenzen als moralischer Imperativ – das ist freilich nur eine Art der Weigerung, sich auf eine politische Diskussion über die Herausforderung Migration einzulassen. Einwanderung als Apokalypse ist die andere, entgegengesetzte“. In dem am 10. Dezember 2018 verabschiedeten Migrationspakt der Vereinten Nationen spiegelt sich diese Umdeutung einer politischen Frage in eine moralische in der Behauptung, Migration in der globalisierten Welt sei „eine Quelle des Wohlstands“. Die Probleme der Migration für die Ankunfts- und noch mehr für die Herkunftsländer werden ausgeblendet. Darüber hinaus verpflichten sich die Pakt Staaten, ihren Bürgern die Vorteile und Herausforderungen der Migration zu vermitteln, „um irreführende Narrative, die zu einer negativen Wahrnehmung von Migranten führen, auszuräumen“. Das gleicht einer Verpflichtung zur Indoktrination, zumal sich die Staaten auch noch dazu verpflichten, „Medienschaffende hinsichtlich Migrationsfragen und -begriffen“ aufzuklären und den Medien mit der „Einstellung der öffentlichen Finanzierung oder materiellen Unterstützung“ zu drohen, wenn sie die „Diskriminierung gegenüber Migranten“ fördern.

Die Völkerwanderung im Herbst 2015 hat Pflichten, aber auch Grenzen der Solidarität vor Augen geführt. Sie wurde zu einer Herausforderung nicht nur für die Politik und die Justiz, sondern auch für die Politikwissenschaft, das Staats- und Verfassungsrecht und die Sozialethik. Während in der Sozialethik aber institutionenethische Perspektiven immer noch rar sind, hat die neue Völkerwanderung in der Politikwissenschaft zu einer Wiederentdeckung der „Ordnungsfunktion und der Schutzpflicht des demokratisch legitimierten Staates“ und zur Besinnung auf das „Wohlergehen der Nation“ und die „Erhaltung der nationalen Lebensart“ geführt. Staats- und Verfassungsrechtler fragen wieder nach der „Zivilisationsleistung des modernen Staates auch unter den Bedingungen menschenrechtlicher Universalität“. Nach der bleibenden naturrechtlichen Funktion eines Staates zu fragen, ist angesichts des Massenzustroms an Flüchtlingen und Armuts- bzw. Arbeitsmigranten dringlich. Ebenso dringlich ist es, nach der Verantwortung der Flüchtlinge und Migranten für ihr Handeln nicht erst im Ankunftsland, sondern bereits im Herkunftsland und auf der Flucht zu fragen. In den Flüchtlingen vorwiegend Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse zu sehen, macht blind für diese Frage.

Manfred Spieker, in: Migration und Solidarität, Hrsg. Stefan Mückl, Duncker und Humblot, Berlin, 2020, Seiten 39 – 49.