Buch des Monats, Glück in den Augen des Zeitgeistes und der Liebe, 29.01.2018
Glück in den Augen des Zeitgeistes
Es gibt einen Geist, der uns in jeder Lebenslage und bei jedem Thema, gleich einem Souffleur, zuflüstert, was gerade die beste Handlungsweise wäre. Nein, wir werden nicht alleingelassen mit dem Ringen um Glück und Zufriedenheit. Wir haben einen Wegweiser, eine Orientierung, die von jedem Mitglied der Gesellschaft akzeptiert wird! Von wem ich spreche, fragen Sie? Der Geist der Zeit ist es, der uns sagt, was in unserer Lebenszeit zu tun ist, damit alles gut wird. Er liefert uns Tag für Tag eine erfolgversprechende Idealvorstellung von uns selbst. Er ist es, der uns sagt, wie das läuft mit der Anerkennung, mit der Sicherheit und mit der Gesundheit. Er verspricht uns das gelungene Leben, wenn wir seinen Vorgaben und Gesetzen folgen. Er gibt uns die Gewissheit, dass wir gut entschieden haben, wenn wir unsere Kinder in einen Kindergarten geben, der neuerdings «Kinder-Akademie» heißt und nicht mehr «Villa Kunterbunt». Er verspricht uns Gesundheit, wenn wir Spinat und Kohl jetzt nicht mehr gekocht zu uns nehmen, sondern sie kalt gepresst trinken. Er schenkt uns Zuversicht, wenn wir unsere Karriere nach den aktuellen Wunschprofilen planen, und macht uns Angst, wenn wir Neues aus den Technologie-Hochburgen lesen. Und diese Furcht führt dann wieder dazu, dass wir genau wissen, wo in unserem Alltag wir uns noch mehr ins Zeug legen müssen.
Der Zeitgeist entscheidet darüber, ob unser Ich in seiner Zeit als erfolgreich gilt oder nicht. Er bestimmt, welche Karriere, welcher Partner, welches Kind, welches Essen und welcher Lebensstil gerade angesagt sind und welche nicht. Er entscheidet darüber, wie viel Anerkennung Ihnen als Zeitgeist-Teilnehmer zuteilwird, und das wiederum definiert, wie sicher Sie sich in Ihrem Leben fühlen. Wer diesem Diktat nicht folgt, kann im Leben schnell die Orientierung verlieren. Aber keine Sorge, wenn Sie nicht zu 100% in den aktuellen Zeitgeist hineinpassen oder einfach keine Lust haben, im Moment dazuzugehören: Warten Sie einfach eine kurze Weile. Denn wenn es eine Sicherheit beim Zeitgeist gibt, dann, dass er sich laufend verändert. Seine Vorstellung vom gelungenen Leben ist nur von kurzer Dauer, und neue Ideen kündigen sich meist schon in irgendeiner Nische an. Bald ist der Zeitgeist bereit, allen Zeitgeist-Teilnehmern von seiner nächsten Vision zu berichten. Und Sie und ich? Wir machen wieder mit. Weil wir uns seinen neuen Versprechen nicht entziehen können. Wir starten abermals ein neues Konzept von unserem Selbst und schlagen einen neuen, erfolgversprechenden Kurs ein – in der Zuversicht, dass dann alles gut wird. Und so beherrscht der jeweils aktuelle Zeitgeist unser Denken, Handeln und Fühlen – immer wieder aufs Neue.
Ihn dabei zu durchschauen, ist eine besondere Kunst. Wer sie beherrscht, kann mit den Zeitkräften bewusst spielen und ist fähig, sich nachhaltige Perspektiven und Freiheiten zu erschließen, die weit über den aktuellen Nerv der Zeit hinausgehen. Dafür braucht es ein Bewusstsein für die Zeitgeist-Dynamik, einen Abstand zu seinen Versprechen für ein gelungenes Leben. Es ist Zeit für eine Aufklärung über Mythen und Glaubenssätze des herrschenden Zeitgeists und für eine neue Mündigkeit der Zeitgeist-Teilnehmer, damit wir ihn beherrschen und mit ihm spielen können – und nicht umgekehrt.
Bisher hat vor allem die Wirtschaft das Thema «Zeitgeist» für sich entdeckt: Lassen sich mit ihm doch die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Kunden weitgehend vorhersagen und instrumentalisieren. Aber die Zeiten ändern sich. Mittlerweile spüren auch viele Privatmenschen, dass da eine Kraft an uns zerrt, deren Gebote eigentlich nur die Wenigsten einhalten können. Die Realität kollidiert mit den Idealen, die uns von allen Seiten vorgegeben werden, und eine leise Stimme fragt: «Wie frei bin ich eigentlich wirklich? Wer bestimmt, was für mich persönlich ein gutes Leben ist?»
Die Macht des Zeitgeistes
Zeitgeist ist ein Versprechen. Er bestimmt unsere Vorstellungen von einem erfolgreichen Leben und gibt uns Orientierung, was wir dafür tun müssen. Er liefert uns zuverlässig und immer aufs Neue Stichworte, die uns erklären, was ein gelungenes Leben gerade ausmacht. Gestern haben Sie zum Beispiel noch gedacht, dass Sie immer erreichbar sein müssen für den Erfolg; heute dagegen machen Sie «Digital Detox» (zu Deutsch: «Digitales Entgiften»), um erfolgreich zu bleiben, und in Kürze flüstert der Zeitgeist Ihnen das nächste Erfolgsmodell zu. Sie denken jetzt vielleicht, dass das doch alles bloß alberne Moden sind. So was hat Sie noch nie interessiert. Die Zeitgeist-Versprechen gehen Sie nichts an. In der Tat glauben viele Zeitgeist-Teilnehmer, dass sie Trends gegenüber resistent sind. Und dass Zeitgeist ein Lifestyle-Thema ist, das sich ausschließlich in der Hipster-Kultur, auf Fashionweeks, im Vegan-Trend und Ähnlichem niederschlägt. Sicherlich kann man sich fragen, was einen zum Beispiel der «Hygge»-Gemütlichkeits-Trend aus Skandinavien angehen soll. Vor allen Dingen, wenn man hört, dass es nun Cafés gibt, die das mit dem Hygge so ernst nehmen, dass der Kaffee dort nicht mehr so heiß gepresst wird, damit er entspannter und ganzheitlich daherkommt – das ergebe ein ganz neues Aroma-Erlebnis für mehr Gemütlichkeit und Glück. Liest man dann aber, dass auch in Singapur das Thema «Ganzheitlichkeit» nun als Neuentdeckung in Schulen umgesetzt wird, obwohl diese doch bisher für gnadenlosen Leistungsdruck in Mathe und Co. bekannt waren, wird es schon interessanter. Mehr Kreativität, mehr Exkursionen, mehr unkonventionelles Denken, so lauten die Bildungsideen dort nun. Hört man zudem, dass unsere seit Jahren mit Druck und Dampf ausgebildeten Eliten in den Chefetagen mittlerweile angeblich im Sex- und Drogensumpf untergehen, wird es umso spannender, dass im Silicon Valley, jenem legendären Innovationszentrum der Computer- und Internetbranche, die ersten Kindergärten jetzt «Awakening Intelligence» (zu Deutsch: «Erwachende Intelligenz») heißen, während bei uns eben noch «Kinder-Akademie» draufsteht – als Verheißung für den späteren Erfolg.
Was hat das für unsere Zukunft zu bedeuten? Heiß geröstet in Kaderschmieden oder ganzheitlich entfaltet in Achtsamkeits-Kindergärten? Was ist denn nun das bessere Konzept für ein gelungenes Leben? … Und Sie dachten, Sie trinken einfach mal eine Tasse Hygge-Kaffee und überlegen, ob Sie das Konzept gut oder albern finden! Dabei hat Ihnen der Zeitgeist beim Genuss ganz nebenbei vom Wandel erzählt und sich sanft in Ihr Denken und Fühlen eingeschlichen. Jetzt stellt sich die Frage, wo und wann dieses Thema in Ihrem Leben auf Sie zukommen wird. Vielleicht sind Sie UnternehmerIn oder ErzieherIn oder ProduktentwicklerIn? Vielleicht betrifft es Sie als Eltern oder als Kind, oder vielleicht will Ihr Partner in Zukunft die Beziehung neu strukturieren – eben ganzheitlich? Das ist keine bewusste Entscheidung. Ihr Partner wird sich nicht vor Sie stellen und sagen: «So, jetzt bringen wir mal das Thema Hygge in die Beziehung!» Nein, der Prozess ist ein schleichender. Sie trinken einen
Kaffee, Sie lesen von den Schulen in Singapur, Sie regen sich über die eiskalte Manager-Elite auf und sind unschlüssig, ob nun «G8» oder «G9» für die Schule das Richtige ist. Sie bemerken, dass ein Buch über das geheime Seelenleben von Bäumen auf der Bestsellerliste ganz oben steht und dass das «Handelsblatt» auf seine Titelseite «Achtsamkeit» schreibt. Nach und nach erreichen Sie immer mehr kleine Details, die die aufgekommene Zeitgeist-Idee in der einen oder anderen Form transportieren. Diese Informationen sickern in Ihr Unterbewusstsein und auch in das aller anderen Zeitgeist-Teilnehmer. Das Thema manifestiert sich so im kollektiven Unterbewusstsein. Und von dort aus bestimmt es unser aller Denken, Handeln und Fühlen. Und so bemerken Sie irgendwann das Bedürfnis, Ihr Leben neu auszurichten. Sie denken, dass das, was der Zeitgeist Ihnen einflüstert, der neue Weg ist, der neue Kompass für Ihr gelungenes Leben.
Und das Beste ist: Das denken die meisten anderen auch, mehr oder weniger intensiv, und Sie bekommen eine Menge Anerkennung, wenn Sie sich aufmachen, den neuen Kurs anzusteuern. Das ist die Macht des Zeitgeists, der wie ein Virus des Geistes eine «verbesserte» Vision vom guten Leben in unser Unterbewusstsein platziert hat. Motiviert von diesen unbewussten Sehnsüchten, stellen wir neue Erwartungen an uns und unsere Umwelt. Wir haben jetzt einen aktualisierten Filter, der alles, was unser Leben ausmacht, frisch bewertet. Stück für Stück erobert der neue Geist der Zeit alle unsere Lebensbereiche: «Kinder-Akademie» oder «Waldorf»-Kindergarten, das ist jetzt die Frage, und welche veränderten Erwartungen an die Lebensmittelindustrie, an die Kosmetikindustrie, an Mobilität, Arbeiten und Wohnen habe ich jetzt? Welche Politik bekommt meine Zustimmung? Welchen Lebenspartner suche ich mir aus, und wie stelle ich mir die ideale Beziehung vor? Und die Industrie spielt mit: Sie greift das neue Thema als Trend auf und beeilt sich, die entsprechenden Produkte und Services zu liefern.
Kirstine Fratz, Das Buch vom Zeitgeist – und wie er uns vorantreibt, Fontis-Verlag, 2017, Basel, Seiten 20 – 27
_____________________________
Glück in den Augen der Liebe
Die Krankheit unserer Zeit – in der Liebe, in der Politik, in der Wirtschaft – besteht nicht nur darin, dass wir unsere Versprechen brechen, sondern sie besteht in erster Linie auch darin, dass wir Versprechungen machen, von denen wir bereits wissen – noch bevor wir sie ausgesprochen haben –, dass wir sie weder halten können noch halten werden. Etwas, was ich verspreche und was von vornherein nicht haltbar ist, wird zwangsweise gebrochen werden. Die Erkenntnis sagt uns, dass wir ehrlich und offen Rechenschaft darüber ablegen müssen, was wir versprechen können. Egon Zehnder hat das sehr schön zusammengefasst: »Seriosität ist, auch zu wissen, was man nicht kann.« Damit mir das nicht mehr passiert, halte ich mich an den Satz: »Verspreche wenig und halte viel.« Ein Versprechen bedeutet für mich, mir jederzeit der Verantwortung bewusst zu sein, die mir aus diesem Versprechen zuwächst. Nicht nur aus Pflichtbewusstsein, sondern aus Treue und Liebe gegenüber dem gegebenen Wort möchte ich es gerne einhalten.
Hier in dieser Welt gibt es kein stabiles Gleichgewicht, sondern nur ein labiles Gleichgewicht. Alles bleibt nur frisch in der permanenten Bewegung. Auch bei einem Unternehmen ist das nicht anders. Nach Gründungsphase und Aufbau geht es um die Weiterführung, das Bewahren und die permanente Anpassung an die Veränderungen des Marktes. Nach zehn Jahren muss vielleicht die ursprüngliche Geschäftsidee neu erfunden werden, damit das Unternehmen vor dem Ruin bewahrt wird. So hat auch die Ehe oder die Partnerschaft nach zehn Jahren andere Aufgaben, denen sich die Partner stellen müssen. Jeder Stillstand ist immer auch eine Art Tod. Und der Erfolg von gestern ist der Feind von morgen. Das gilt in der Ehe genauso wie in Unternehmen und Freundschaften. »Ruhelos ist man, bevor alles im Paradies ist«, sagte Friedrich Weinreb. Ruhelos und in gutem Sinne unterwegs ist eine Liebe vielleicht deshalb, weil sie im Innersten weiß, dass es in der Liebe keinen Automatismus gibt. Die Liebe ist zwar ewig, aber in dieser Welt bedarf sie unserer Zuwendung. Sie ist ein Element unseres Lebens und soll wie eine Quelle sein. Die Quelle sprudelt und fließt in einer permanenten Bewegung vom Bach zum Fluss ins Meer. Vielleicht ist das Meer ein Symbol für das Paradies, das Jenseitige, in dem die Quelle wieder zur Einheit gelangt. Alles, was steht, verdirbt oder fällt um. Ob es nun ein Fahrrad oder eine Partnerschaft ist.
Das, was uns gestern verbunden hat, ändert sich im Laufe der Jahre. Vielleicht wird der Partner krank, ein Freund verliert seinen Job … Die Treue der Liebe besteht darin, alles anzunehmen, wie es kommt. Nicht in dem Sinne, dass man das Unglück liebt, aber indem man versucht, alles zu teilen. Es gilt zu erkennen, was nun gefordert ist: Man hält Ausschau nach einem Arzt mit fortschrittlichen Kenntnissen oder nach einer neuen Idee für das Unternehmen. Es gilt, Abschied zu nehmen und sich Neuem zuzuwenden. Die Online-Welt hat Media Markt und Saturn im Schlaf heftig durchgerüttelt. Auch in einer Beziehung muss man sich der Veränderung stellen. Die Krankheit eines Partners stellt einen vor neue Aufgaben und konfrontiert einen mit Leid und Schmerz. Das ist das Schöne an einer Bewährung der Liebe: sich auch bei der Krankheit eines Partners jederzeit fürsorglich und helfend einzubringen.
Natürlich muss man sich Leid und Schmerz stellen und annehmen. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und geteilte Freude ist doppelte Freude. Das ist sehr viel. Es verlangt uns viel ab, sich dem Leben mit all seinen Herausforderungen immer wieder zu stellen. Dort, wo wir die Pflicht nur als Pflicht sehen, wird sie zur Belastung, und wenn die Belastung zu groß ist, bricht alles zusammen. Eine große Hilfe ist es, diese Pflicht als eine essenzielle, tiefe Herausforderung, als eine Bewährung zu sehen. Aber das ist nicht leicht. Idealerweise wird die Pflicht zur Freude, zur Passion. In jeder Beziehung und in jedem Leben gibt es Krisen. »Jede Krise macht es möglich, dass die Liebe gestärkt, gereift und neu geboren wird…. Jede Krise birgt auch eine gute Nachricht, die zu hören man lernen muss, indem man das Ohr des Herzens verfeinert“ (Papst Franziskus). Wer Leid und Schmerz überwindet, dem fließt neue Kraft zu. Das macht ihn zu einem anderen Menschen – zu einem Geläuterten, der auf dem Weg weitergekommen ist. Man hat auch die andere Seite erlebt und auf sich genommen. Wo es Freude und Glück gibt, gibt es auch Leid. Dazu eine Geschichte, die ich mit meinem Mentor Weinreb erlebt hatte, als ich einmal mit ihm Sabbat feiert. Es war eine große Ehre für mich, dass Weinreb mich eingeladen hatte. Ich erinnere mich, wie er eine Flasche koscheren Wein mit einem Tablett und einem Glas hereinbrachte. Er öffnete die Flasche und schenkte den Wein ein, so lange, bis das Glas überlief und der Wein sich auf das Tablett ergoss. Ich fragte ihn, was das bedeuten soll. Und er erklärte: »Das ist ein Symbol. Das Gefäß ist der Mensch und Gott ist der, der den Wein einschenkt. Und dieser Gott will nur Glück für uns. Also schenkt er nur Glück ein in dieses Glas. Aber durch die Begrenztheit des Gefäßes, durch die Begrenztheit des Menschen läuft es über. Und das Glück, das überläuft, wandelt sich zu Leid. Das Leid ist also nichts anderes als das Glück, das wir nicht fassen konnten.«
Liebe und Zeit
Wenn Schmerz, Leid und Trauer in unser Leben einbrechen, stehen wir vor ganz besonderen Herausforderungen. Gerade für die Bewältigung der Trauer gibt Franziskus einen Rat: »Der geliebte Mensch hat weder unser Leiden nötig, noch erweist es sich für ihn als schmeichelhaft, wenn wir unser Leben ruinieren. Ebenso wenig ist es der beste Ausdruck der Liebe, jeden Moment an ihn zu denken und ihn zu erwähnen, denn das bedeutet, von einer Vergangenheit abhängig zu sein, die nicht mehr existiert, anstatt diesen realen Menschen zu lieben, der sich jetzt im Jenseits befindet … Stark wie der Tod ist die Liebe.« Und über die Liebe, die dies ermöglicht bis ins hohe Alter, schreibt er: »Man verliebt sich in den ganzen Menschen mit seiner beson deren Identität, nicht nur in den Körper, auch wenn der Körper – unabhängig vom Verschleiß der Zeit – niemals aufhört, in gewisser Weise die Persönlichkeit auszudrücken, die das Herz einmal gefesselt hat…. Die Liebe bis ins hohe Alter ist sicher ein Traum, den wir alle haben. Ab und an können wir ein älteres Liebespaar beobachten, das noch immer zärtlich und liebevoll miteinander umgeht, und wir sind tief berührt, dass es möglich ist, diese Liebe bis ins hohe Alter zu leben“.
Mein erster Meister, Dr. Johannes Ludwig Schmitt, ein Mediziner, der sich der Atemheilkunst verschrieben hat, hat den menschlichen Körper als einen Tempel betrachtet, der vom äußeren Entschwinden bedroht und fragil ist. Der Körper ist unser Tempel, er ist unser Zuhause. Der Körper ist Ausdruck unseres Seins in dieser Welt. Er ist der Ort, an dem unsere Liebe und unsere Seele wohnen. Der wesentliche Teil von uns ist bei unserem ersten Atemzug eingezogen. Bei unserem letzten Atemzug verlassen Seele und Geist wieder unsere menschliche Hülle. Es gibt dazu ein wunderbares Bild aus dem Tibetischen Buch vom Leben und vom Sterben: »Das tibetische Wort für Körper ist Lü; es bezeichnet etwas, das man zurücklässt – wie Gepäck. Jedes Mal, wenn wir Lü sagen, erinnert es uns daran, dass wir bloß Reisende sind, die vorübergehend Herberge in diesem Leben und in diesem Körper genommen haben.«
Die wahre Liebe besteht darin, diese Heiligkeit des Körpers zu erkennen und den anderen Menschen zu lieben, wohl wissend, dass sein irdischer Körper nicht am Brunnen der Ewigkeit getauft ist und dennoch essenziell mit ihm verbunden ist. Denn wenn wir den anderen wirklich lieben, lieben wir ihn nicht nur in der Erscheinung seines Körpers, sondern wir lieben das, was in diesem Körper ist und was durch ihn hindurch scheint. Wir lieben die Person, die in diesem Körper, diesem Tempel lebt. Und so sehen wir den anderen mit dem liebenden Blick, von dem wir gesprochen haben, nicht nur in seiner äußeren Erscheinung, sondern auch in seiner Bedürftigkeit, seiner Vergänglichkeit. Wenn man den anderen wirklich liebt, gehört dazu auch, all die Gebrechlichkeiten seines Körpers zu lieben, ja, den anderen noch mehr zu lieben, um diese Gebrechlichkeiten auszugleichen. Darin besteht die wahre Liebe: Es ist das Gefühl des Einsseins mit dem anderen, dass seine Gebrechlichkeiten meine Gebrechlichkeiten sind, so wie sein Glück mein Glück ist.
Kürzlich las ich eine interessante Studie des Psychiaters und Harvard-Professors George E. Vaillant. Mehr als 70 Jahre begleiteten Forscher der Harvard University in Cambridge im Rahmen der Grant-Studie das Leben von 268 Harvard-Absolventen der Jahrgänge 1939 bis 1945. Sie untersuchten, wie Menschen ein erfülltes Leben gelingt und gingen der Frage nach, was glückliche Menschen anders machen als andere. Zu den Teilnehmern zählte auch der spätere Präsident John F. Kennedy. Die Studie, so berichtet Vaillant begeistert, »gewährt tiefe Einblicke in Schicksale, so wie es sonst nur dem Roman vorbehalten ist.« Die glücklichsten waren der Untersuchung zufolge zwei gut ausgebildete Männer, die gelernt hatten, ihr Wissen als Lehrer erfolgreich weiterzuvermitteln. Sie hatten glückliche Familien und Ehen, die sechzig Jahre lang gehalten hatten. Was also ist es, das sie so glücklich werden ließ? Professor Vaillant kennt die Antwort: »Glück ist, nicht immer alles gleich und sofort zu wollen, sondern sogar weniger zu wollen. Das heißt, seine Impulse zu kontrollieren und seinen Trieben nicht gleich nachzugeben. Die wahre Glückseligkeit liegt dann in der echten und tiefen Bindung mit anderen Menschen.« Vermutlich waren die beiden Männer deshalb so glücklich, weil sie Vaillants Rezept befolgt haben, wahre, tiefe Bindungen eingegangen sind und erfahren haben, wie glücklich liebevolle und vertrauensvolle Beziehungen machen. Glückseligkeit geht eben doch vom Herzen aus, und Liebe ist dafür der beste Garant. Auf die Frage, wie glücklich uns die Liebe macht, hat der Professor eine sehr einfache, prägnante Antwort gefunden: Man muss kein Hirnforscher sein, um zu wissen, dass in unserem Kopf etwas Euphorisches passiert, wenn wir lieben. Reife ist, sich mit Wonne zu erinnern, ohne es wieder erleben zu müssen. Denn das kurze Glück ist wie ein Kletterer. Er denkt an nichts anderes als den nächsten Schritt und ist eins mit sich und der Welt, sonst stürzt er ab. Das lange Glück aber ist es, Einfühlungsvermögen und Reife zu besitzen und nicht mehr jeden Gipfel erobern zu müssen.