Die Zukunft der Freiheit – gegen und mit dem Staat, Buch des Monats, 11.06.2019
Von Paul Kirchhof
Wir fühlen uns frei, sind stolz auf unsere Freiheit und wehren uns sensibel gegen jede Bedrohung der freien Gesellschaft. Doch wenn wir müde, enttäuscht oder krank sind, wenn sich eine Stimmung von Angst, Unsicherheit oder Bedrohung verbreitet, gelingt es uns nicht immer, entschlossen und tatendurstig dieser Entwicklung entgegen zu treten. Beherzte Freiheit will errungen sein. Sie ist nicht jedermanns Sache.
Menschen müssen immer wieder auf die Idee der Freiheit eingestimmt, können aber auch umgestimmt werden. Die Werbung sucht sie zu veranlassen, auch etwas zu kaufen, was sie nicht brauchen. Parteistrategen wollen ihnen eine bestimmte politische Auffassung unmerklich vermitteln. Die »sozialen « Medien führen sie in Echokammern, in denen verstärkt das widerhallt, was sie schon immer empfunden, gewusst und gedacht haben. In diesem Umfeld bewahrt der Mensch Freiheit nur bei hinreichender Gelassenheit. Er gewinnt Distanz zu sich, seinem Ehrgeiz, seinem Erwerbsstreben und Machtwillen, entfaltet ein Selbstbewusstsein, unterscheidet zwischen Muße und Gedankenlosigkeit. Er gewinnt Ausgeglichenheit, die vor dem Charakterfehler bewahrt, »keinen Gefallen an sich selbst zu haben« (Seneca). Der Gelassene traut sich etwas zu, denkt und handelt beherzt, tritt bedacht und zeitbewusst in eine Welt, in der er auch einmal von sich selbst und allen Dingen lassen, eigene Interessen preisgeben kann, die Frage nach dem Warum nicht beantworten muss. Gelassenheit gibt Halt in existenziellen Krisen, richtet den Enttäuschten auf, öffnet in schier ausweglos erscheinenden Lagen einen Weg. Am Ende dieses Weges drängt Gelassenheit zu beherztem Handeln.
Traditionell beansprucht der Mensch Freiheitsrechte, um sich gegen willkürliche Verhaftung, übermäßige Steuern, gegen Feudalstrukturen und Verachtung zu wehren. Das Freiheitsanliegen weist die Obrigkeit in Distanz und unterbindet deren Willkür durch Recht. Doch heute legt der Staat das Instrumentarium des Rechts oft aus der Hand und führt den Bürger fast unmerklich als wohlwollender Partner in staatlich erwünschte Verhaltensweisen. Er nutzt den »goldenen Zügel«, um mit Verlockungen und Drohungen zu lenken. Er bietet bei einer umweltfreundlichen Bauweise eine Subvention an, erhöht die Steuern für Genussmittel und schädliche Gebrauchsgüter. Der Bürger folgt den staatlichen Finanzanreizen, verliert Distanz zum Staat und Bürgerstolz. Der Staat setzt auch Fakten, die der Bürger als unausweichlich erlebt. Er erschließt eine Region und vernachlässigt die andere. Er lässt einer Wirtschaftsbranche ihre Freiheit und bedrängt die andere mit bürokratischen Auflagen. Er schafft Forschungseinrichtungen für den technischen Fortschritt, vernachlässigt aber das entsprechende Fortschreiten in Recht, Ethik und Kulturerfahrung.
Zunehmend spricht der Staat den Menschen nicht mehr individuell an, sondern steuert ihn als Teil eines Kollektivs – der Konsumenten, der Anleger, der Alterskohorten, der Sozialversicherten. Er verändert die Bedingungen für Geld und Kredit, so dass der Sparer keine Zinsen mehr erhält, die Aktienkurse aber steigen. Er richtet den Markt allein auf »Gewinnoptimierung « aus, drängt alle Beteiligten zu einem stetigen Wachstum, und damit in die Maßstablosigkeit und Maßlosigkeit. »Mechanismen« gefestigter Gewohnheiten werden zu Systemen der Globalsteuerung ausgestaltet, in denen der Mensch als lenkbares Objekt behandelt wird. Der Einzelne wehrt sich nicht, sondern fühlt sich wohl versorgt und wohlmeinend umarmt. Doch er sollte gelegentlich aus diesem System heraustreten, den Freiheitsverlust eines in diesem Mechanismus eingebetteten Bürgers kritisch bedenken und ihm beherzt entgegentreten.
Freiheit braucht Sicherheit. Diese Staatsaufgabe steht vor neuen, freiheitssensiblen Fragen, wenn die Menschen durch suizidbereite Terroristen bedroht werden, die das Recht mit seinen herkömmlichen Mitteln, selbst mit der Androhung der Todesstrafe, nicht erreicht. Die Sicherheit im Geld, Fundament unserer Wirtschaft, wird durch die Überforderung des Staates, die überhöhte Staatsverschuldung, substanziell gefährdet. Die Staatsgrenze markiert den Raum für Freiheit und Sicherheit der Staatsbürger, bestimmt aber auch das Ziel, in dem sich Menschen, die in ihrem Heimatland verfolgt werden, Zuflucht erhoffen. Die eigene Sicherheit gerät in eine weitere Abhängigkeit von der Sicherheit in der Welt.
Freiheit ist stets ein Wagnis, das der Freie verantwortet. Er steht mit seiner Person und seinem Namen für das, was er tut. Diese verantwortliche Freiheit wird von privaten Mächten gefährdet. »Soziale Medien« gestatten den Menschen, aus der Anonymität heraus einen Lehrer, einen Richter oder einen Konkurrenten mit Hass und Häme zu überschütten, ohne dafür zur Verantwortung gezogen werden zu können. Wer sein Geld in einem Fonds anlegt, erfährt nicht, ob er seinen Kapitalgewinn durch die Produktion von Weizen oder von Waffen erzielt. In anonymen Kapitalgesellschaften gibt es kaum noch verantwortliche Unternehmer, nur noch »leitende Angestellte«, die selbst dann nicht persönlich haften, wenn sie fehlerhafte Produkte liefern oder trotz Schlechtleistungen Boni empfangen.
In einer Demokratie wird das Gesetz in öffentlicher Debatte beschlossen. Jeder weiß, wer das Gesetz verantwortet und in Zukunft vielleicht auch wieder ändert. Der Algorithmus hingegen ist die Regel aus der Maschine, die ihre Herkunft verschweigt und im Anspruch auf Künstliche Intelligenz keinen Widerspruch duldet, dem Nutzer nur noch eine formatierte Freiheit erschließt. Das Gesetz droht durch die Maschine verdrängt zu werden. Wenn die Technik der Gegenwart mit ihren Computern, Robotern und Drohnen unser Alltagsleben grundlegend verändert, wird dies vielfach als Bedrohung empfunden. Diese Verunsicherung müssen wir ernst nehmen.
Doch bietet diese Technik auch eine faszinierende Chance zur Überwindung unserer strikt auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Lebensweise. Die Griechen und Römer haben ihre Freiheit als Freiheit von der »banausischen « Arbeit des Handwerks und des Handels verstanden. Wir sehen diese Idee nicht als Vorbild, bereiten uns aber auf eine neue Freiheit vor, in der die Erwerbsarbeit an Bedeutung verliert, der Mensch für Familie, Freundschaft, Kultur, Ehrenamt und Gemeinwohl frei ist.
Freiheit braucht Vertrauen. Ein Leben in Freiheit wird nur gelingen, wenn der Mensch anständig handelt, der Kaufmann ehrbar wirtschaftet, Erklärungen nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben werden. Freiheit von Fremdherrschaft und Herrschaft über sich selbst sind Teil desselben Gedankens. Die Fähigkeit zur Freiheit stützt sich auf Begabung und Charakter, wird in Familie, Schule und einer uns leitenden Kultur entfaltet, muss aber vor allem durch innere Qualifikation zur Freiheit errungen und erneuert werden. Der Mensch bildet sein Gewissen – die selbstkritische Vergewisserung über eigenes Verhalten und dessen Wirkungen. Er handelt beherzt – mit Mut und Gelassenheit. Er sucht in »Gegenseitigkeit« das Verständnis beim anderen, findet so auch Gefallen an sich selbst. Er unterscheidet zwischen dem Willen des Gesetzgebers und gesetzlicher Willkür. Er weiß, dass mit wachsendem Wissen die Unruhe zunimmt. Er kann mit Ungewissem leben, das Unbegreifbare ertragen.
Freiheit entfaltet sich in Vernunft und Rationalität, aber auch im Fühlen und Empfinden, im künstlerischen Gestalten und Spielen, in Lieben, Hoffen, Glauben, auch in einer Welt leichten Sinnes. Deshalb lebt der Mensch seine Freiheit mit all seinen Fähigkeiten. Er ist in Vernunft angespannt, in Unvernunft entspannt. Er erfährt die Welt in der Subjektivität seiner Sinne. Kamille im Botanischen Garten ist ein Heilkraut, im Rosenbeet ein Unkraut. Die Ordnung eines Wettbewerbs in Wirtschaft, Sport und Politik folgt teilrationalen Eigensystemen, aus denen sich der freie Mensch zu lösen vermag. Die Verfassung bietet dem Menschen Freiheitsrechte, berechtigt ihn mit seinem Verstand und seinem Willen, seinen Tugenden und Schwächen, bindet ihn in einer Rechtsordnung, die dem anderen Menschen gleiche Rechte gibt und die Rechtsgemeinschaft mit Aufgaben betraut und mit Befugnissen ausstattet.
Das Grundgesetz gibt als die Verfassung unseres Landes der Freiheit Maß und Maßstab, nimmt die Erfahrung der Französischen Revolution auf, die aus der Stimmung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« das Recht von »Freiheit, Gleichheit, Sicherheit« gemacht hat. Der Staat ist freiheitsverpflichtet, nicht freiheitsberechtigt. Er darf in den Schulen Kindern nicht seine Freiheitsvorstellungen aufdrängen, sondern bringt deren eigene Freiheit zur Entfaltung. In seinen Kultureinrichtungen bietet er Entfaltungsräume für Kunst und Bildung, für sportliche Fitness und Fairness an. In großen Fragen des Lebens – Glauben und Weltanschauungen – schweigt der Staat und überlässt es anderen, diese Grundsatzfragen des Menschlichen individuell und öffentlich zu beantworten. Staat und Gesellschaft ergänzen sich. Soweit Freiheit herrscht, ist der einzelne Mensch mächtig, der Staat ohnmächtig.
Dieses Buch will den Menschen in seiner Vernunft und seiner Logik, aber auch in seinen Sinnen und Empfindungen ansprechen. Es wird zählen und erzählen. Freiheit ist unantastbar und unveräußerlich, vielfach auch unzählbar.