Brief aus Brüssel, 2015 / April, 27.04.2015
Die Europa-Wahlen liegen bald ein Jahr zurück. Lässt sich bereits ein „geistliches Röntgenbild“ des Europa-Parlaments anfertigen? Die EU solle auf den christlichen Wurzeln des Kontinents aufbauen, wünschen sich immer noch viele Europäer. Aber wird das Parlament diesem Anspruch gerecht? Bisher sieht es nicht so aus.
Zunächst: Die meisten Mitglieder nationaler Parlamente, etwa des Deutschen Bundestages, geben auf ihrer Profilseite ganz selbstverständlich ihre Religionszugehörigkeit oder -nichtzugehörigkeit an. Sie ermöglichen damit zumindest statistisch eine „geistliche Röntgenaufnahme“ ihres Parlaments. In Straßburg hingegen sorgt schon die Frage nach der Religionszugehörigkeit der EU-Abgeordneten für Stirnrunzeln: „So etwas fragt man nicht“. Überhaupt sind religiöse Bekenntnisse in EU-Institutionen heute verpönt. Man erinnere sich an die leidenschaftliche Diskussion um den Gottesbezug in der EU-Charta. Offiziell ist also nichts bekannt über religiöse Neigungen der Mandatsträger. Man ist auf eine alte biblische Weisheit zurückgeworfen: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
Diese „Früchte“ sind noch rar aber dennoch markant. Ein kleiner Korb zur Auswahl: Erste Frucht: Zu Beginn der Legislaturperiode vergab die Gruppe der Europäischen Christdemokraten im EU-Parlament den Posten des Obmanns im Frauenausschuss an zwei Politikerinnen aus Frankreich und Schweden. Der Frauenausschuss ist für die christdemokratische Agenda wichtig, denn hier werden regelmäßig Entscheidungsvorlagen zu „Geschlechtergleichstellung“, Gender-Ideologie, Quotenregelungen, die Etablierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften sowie eines sogenannten „Menschenrechts auf Abtreibung“ vorbereitet. Dagegen protestieren in der Tat viele Abgeordnete, nicht zuletzt weil mit den Bürgerprotesten, die diese Entscheidungen provozieren, viel Arbeit verbunden ist. Statt jedoch die Arbeit des Frauenausschusses zu beeinflussen oder gar für seine Abschaffung zu plädieren, vergibt die EVP den Posten des Obmanns an zwei EVP-Politikerinnen, deren erklärte Absicht es ist, die feministischen Positionen der Liberalen und Sozialdemokraten im üblichen Konsensverfahren mitzutragen. Damit verliert der christliche und familienorientierte Flügel der EVP weitgehend an Einfluss, die EVP passt sich den Forderungen des Frauenausschusses an.
Zweite Frucht: Die in Deutschland bekannte „Woche für das Leben“ war in den vergangenen Jahren gemeinsam von den Fraktionen der EVP (Christdemokraten) und der EKR (Europäische Konservative und Reformer) organisiert und fraktionsübergreifend von Mitgliedern der Sozialdemokraten und auch Liberalen unterstützt worden. In diesem Jahr wurde sie auf Wunsch des EVP-Fraktionsvorsitzenden Manfred Weber (CSU) im Alleingang organisiert. Resultat: Die „Woche für das Leben“ im EU-Parlament beschränkte sich im Frühjahr 2015 auf eine blasse Nachmittagsveranstaltung ohne jede Außenwirkung.
Ditte Frucht: Die Intergruppe für Familie hat sich zwar endlich konstituiert. Vorausgegangen war aber ein seit den EU-Wahlen anhaltendes Ränkespiel. Die langjährige Vorsitzende Anna Zaborska sollte von ihrem Vorsitz vertrieben werden, weil sie die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau öffentlich verteidigt. Dieser Standpunkt wird jedoch von manchen „Familienpolitikern“ als gestrig und damit als das politische Konsensgeschäft störend wahrgenommen.
Vierte Frucht: Der offizielle Dialog der EU-Institutionen mit den Kirchen und Glaubensgemeinschaften führt zu einer fortschreitenden Banalisierung der christlichen Kirchen durch die EU. Nach Artikel 17 des Arbeits-und Funktionsvertrags der EU müssen alle in einem EU-Mitgliedsstaat anerkannten Kirchen oder Glaubensgemeinschaften von den EU-Institutionen angehört werden. Das führt einerseits dazu, dass der Apostolische Nuntius bei der EU schweigend in der Runde sitzt, während der Generalsekretär der COMECE (der Chef des Brüsseler Büros der Bischofskonferenzen) spricht. Dass der diplomatische Gesandte des Heiligen Stuhls im Range eines Erzbischofs sein Rederecht an einen Lobbyisten im Priesterrang abgeben muss, ist schon bemerkenswert. Andererseits führt das Konsultationsgebot der Kirchen und Glaubensgemeinschaften in der Praxis vor allem dazu, dass der Vertreter der römisch-katholischen Kirche genau nur die drei Minuten Redezeit erhält wie jeder andere Vertreter von weithin unbekannten – und in der Tat politisch völlig unbedeutenden – Glaubensgemeinschaften. In diesem Frühjahr fand der „Dialog mit den Kirchen und Glaubensgemeinschaften“ auf Geheiß des Parlamentspräsidenten Martin Schulz als „inter-religiöser Dialog“ zum Thema „Religiöser Radikalismus und Fundamentalismus“ statt. Mit der Formulierung „inter-religiös“ wird allerdings suggeriert, dass es sich nur um einen Dialog zwischen den Kirchen und Glaubensgemeinschaften untereinander handelt, für den das EU-Parlament die Infrastruktur bereitstellt. Das widerspricht jedoch dem Arbeitsvertrag der EU. Ferner suggeriert die Themenformulierung, dass alle Religionen (also auch die jüdische und die christliche) mit dem islamischen Terror verglichen werden können, obwohl es um die aktuelle und vom politischen Islamismus ausgehende Terrorgefahr in den 28 Mitgliedsstaaten geht. Die Terrorgefahr wird übrigens von den Sicherheitsdiensten der EU-Institutionen in Brüssel als so akut eingeschätzt, dass ein anberaumter Meinungsaustausch im EU-Parlament mit Vertretern der verfolgten Christen im Irak aus Sicherheitsgründen kurzfristig abgesagt wurde.
Das Thema Christenverfolgung ist seit Monaten ein Top-Thema in den Medien. Dennoch unterließ der Berichterstatter Elmar Brok (CDU) in seinem Entwurf zum Jahresbericht der Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik jeden Hinweis auf die Notwendigkeit, die zunehmende und sich brutalisierende Christenverfolgung in der Welt auf höchster europäischer Entscheidungsebene zu thematisieren. Ein entsprechender Paragraph wurde erst in der Schlussabstimmung im Plenum durch einen mündlichen Änderungsantrag von konservativen Abgeordneten eingefügt, die der EVP nicht angehören.
An diesem Mittwoch (29. April) wird das Plenum in Straßburg eine Generaldebatte über die Tragödien im Mittelmeer und die Migrations- und Asylpolitik der EU führen. Außerdem steht eine Aussprache über die Ermordung der christlichen Studenten in Kenia durch die Terrorgruppe al-Schabab auf dem Programm. Solche Debatten sind als Indikatoren für ein „geistliches Röntgenbild“ kaum geeignet. Sie enden nämlich in puren nicht-legislativen, also unverbindlichen, Entschließungen. Und diese Früchte sind politisch so viel wert wie Fallobst.