Brief aus Brüssel, 2018 / Februar, 01.03.2018
Der Kampf um das nächste EU-Parlament ist eröffnet. Zwar finden die nächsten EU-Wahlen erst in fünfzehn Monaten am 26. Mai 2019 statt, doch in den Brüsseler Kulissen wird der Wahlkampf bereits vorbereitet. Drei Fragen stehen im Vordergrund. Was geschieht mit den 73 frei werdenden britischen Sitzen nach dem Brexit? Wie halten wir es mit der Spitzenkandidaten-Prozedur? Und was passiert mit den transnationalen Listen?
Eigentlich müsste es heißen: Weniger Mitgliedsstaaten – kleineres EU-Parlament. Also müssten die 73 britischen Sitze ersatzlos gestrichen werden. Doch das liegt der Institution fern. In seiner Entschließung vom 7. Februar 2018 zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (2017/2054(INL) – 2017/0900(NLE)) hat das Parlament selbst dem Europäischen Rat vorgeschlagen, die 73 britischen Sitze nicht abzuschaffen und das EP mithin auf 677 Sitze zu verkleinern, sondern 27 Sitze auf andere Mitgliedsstaaten zu verteilen, jedoch nicht auf Deutschland. CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne nehmen das kommentarlos hin. Nur die AfD stimmte gegen die Ungleichbehandlung der Deutschen. Denn in Straßburg vertritt ein deutscher Europa-Abgeordneter 854 838 deutsche Wähler, während die fünf kleinsten Mitgliedsstaaten zusammengenommen nicht einmal so viele Wähler erreichen. Gleichwohl ist die Abstimmung aller EU-Abgeordnete gleichwertig, bei Abstimmungen in Fraktionen, Ausschüssen und im Plenum werden die Stimmen nicht gewichtet (anders als im Ministerrat). Das Abstimmungsergebnis im EU-Parlament spiegelt nicht die Bevölkerungsdichte wieder. Deutschland wurde schon beim Lissabon-Vertrag 2007 zusätzlich benachteiligt, indem man seine Mandate von 99 auf 96 verringerte. Die Bundesregierung ließ das geräusch- und grundlos zu. Da jetzt aufgrund des Brexit die Verträge sowieso geändert werden müssen, bestünde hier die Möglichkeit, die Anzahl der für die Bundesrepublik vorgesehenen Sitze wieder auf mindestens 99 zu erhöhen. Doch die Bundesregierung zeigt daran kein Interesse, zulasten der Deutschen.
„Transnationale Listen“ – ein europäisches Strohfeuer? Die transnationalen Listen sind eine Erfindung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Schon wieder ein Strohfeuer aus dem Elysee-Palast. Am 26. September 2017 schlug er in seiner Rede in der Sorbonne-Universität vor, die freiwerdenden britischen Sitze für EU-weite transnationale Listen zu nutzen. Viele Kommentatoren diskutierten diese Idee immer wieder als Meilenstein der Demokratiefähigkeit der EU. Doch darum ging es Macron offenbar nicht. Er brauchte ein europäisches Ablenkungsmanöver, um innenpolitisch den Wahlmodus für die EU-Wahlen zu seinen Gunsten verändern zu können um sich, en passant, einen Erfolg bei den nächsten EU-Wahlen zu sichern. Die nächsten Wahlen in Frankreich sind die EU-Wahlen, dieses Datum kündigt mithin einen Stimmungstest für seine Partei „La Republique En Marche“ an. Problematisch ist dabei für Emmanuel Macron, dass seine Partei von oben nach unten aufgebaut wurde und auch so regiert wird. Sie verfügt nicht über gewachsene Strukturen in Städten und Gemeinden. Eine gewachsene, tragfähige, für einen „Wahlkampf im Nahkampf-Modus“ notwendige lokale Verankerung gibt es auch nach einem Jahr Parteiarbeit nicht. Die Aufteilung Frankreichs in acht große Wahl-Regionen ist also ein Hindernis für den Staatspräsidenten. Er kann die erforderliche regionale Bürgernähe nicht mit Leben erfüllen. Hinzu kommt, dass Macron gleich acht regionale Listen mit kompetenten Köpfen zusammenstellen müsste – für den Tausendsassa im Elysee ein veritables Problem. Den Altparteien mag das gelingen, nicht jedoch einer so jungen Bewegung wie der von Macron. Also änderte der Staats- und Parteichef kurzerhand den Wahlmodus, schaffte die acht Wahlregionen ab und führte eine nationale Liste ein. Um diesen Vorschlag innenpolitisch durchzubekommen, wurden die transnationalen europäischen Listen mit Pauken und Trompeten durch die Sorbonne-Rede ins Spiel gebracht.
Damit stellte Macron außerdem den anderen Parteien in Frankreich geschickt ein Bein. Denn fast alle großen Parteien Frankreichs sind in europapolitischen Fragen zerstritten: Weniger Europa? Mehr Europa? Christliches Europa? Ein Europa nach de Gaulles Vorbild? Die Altparteien Frankreichs konnten ihre Zerstrittenheit in europäischen Fragen bislang dadurch verdecken, dass acht verschiedene Spitzenkandidaten und Regional-Listen im Rahmen des Parteiprogramms unterschiedliche politische Vorstellungen über die EU vertreten konnten. Mit einer einzigen nationalen Liste pro Partei kann Macron indes die innerparteiliche Kakophonie der politischen Mitbewerber besser herausstellen. Die Föderalisten aller Fraktionen im EU-Parlament übernahmen Macrons Vorschlag, kamen aber damit nicht durch. Das EU-Parlament lehnte transnationale Listen, und der Europäische Rat folgte diesem Vorschlag. Pech für Macron in Brüssel. Sein Vorschlag erwies sich als Strohfeuer.
Das Spitzenkandidaten-Problem. Die Christdemokraten lehnten das Prinzip der transnationalen Listen auch aus knallharten machtpolitischen Erwägungen ab. Diese Listen würden nämlich ihre Vormachtstellung in Brüssel gefährden. Erfahrungsgemäß erzielen die Christdemokraten bei EU-Wahlen bessere Ergebnisse als die Sozialdemokraten. Für 2019 ist gewiss alles offen aufgrund der Migrationskrise und Terrorismusgefahr, des Vertrauensverlusts in die traditionellen Parteien im allgemeinen und aufgrund der langwierigen Koalitionsverhandlungen, dem Brexit-Manövern und möglicherweise noch einer Eurokrise im besonderen. Die 2014 angewandte Spitzenkandidaten-Prozedur sicherte den Christdemokraten trotz massiver Verluste noch einen kleinen Vorsprung und mithin den Chefposten der EU-Kommission. Im Wahlkampf 2014 wurde die Spitzenkandidaten-Prozedur geprobt. Martin Schulz (SPD), EU-Parlamentspräsident, stürmte damals mit diesem Konzept vor. Breite Unterstützung kam von den Föderalisten aller Fraktionen. Die Christdemokraten knickten ein, machten es den Sozialdemokraten nach und schlugen Jean-Claude Juncker vor. Doch ein Versuch verpflichtet zu nichts. Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen weiterhin. Denn erstens ist die EU kein Staat. Die Mitglieder des EU-Parlaments werden aus gutem Grund in jedem Mitgliedsstaat nach den dort geltenden Wahlordnungen gewählt. Deswegen hat jede Partei im Mitgliedsstaat ihren Kandidaten. Deswegen kann in Frankreich beispielsweise die regierende Partei den Wahlmodus den nationalen Gegebenheiten anpassen. Deutschland hat den nationalen Charakter der EU-Wahl auch genutzt, als es anlässlich der Wahlen 2014 die Fünf-Prozent-Hürde als nicht verfassungsgemäß abschaffte. Zweitens: Ein Denkproblem wird verschwiegen. Anlässlich der Wahlen zum EU-Parlament bewerben sich die Spitzenkandidaten um ein Mandat im EU-Parlament, es ist nicht die offene Wahl des Chefs der EU-Kommission. Jean-Claude Juncker bewarb sich 2014 als Spitzenkandidat zur Wahl des EU-Parlaments, wurde ins EP gewählt und nahm seine Wahl nicht einmal an! Drittens: wenn die Mitgliedsstaaten den EU-Vertrag nicht brechen wollen, müssen sie ihn also einhalten. Der EU-Vertrag aber sieht vor, dass die Staats- und Regierungschefs mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten aussuchen, der anschließend vom EU-Parlament bestätigt wird. Es ist also keine „Wahl des Kommissionspräsidenten durch das EU-Parlament“, wie die unermüdliche PR-Maschine des EU-Parlaments kundtut. Das EU-Parlament bestätigt (oder verwirft, was noch nie geschehen ist) lediglich eine Entscheidung der Staats- und Regierungschefs. Die Spitzenkandidaten-Prozedur ist eine Strategie der europäischen Parteienverbände, um bessere Ergebnisse zu erzielen. Doch diese Strategie verpflichtet nur die europäischen Parteienverbände. Der Europäische Rat hat bereits jetzt klargestellt, dass es einen Automatismus zwischen Spitzenkandidat, Gewinner der EU-Wahl und der Ernennung zum Präsidenten der EU-Kommission nicht gibt.
Brexit-Verhandler Michel Barnier – Spitzenkandidat ? Derweil gerät aus dem Blickfeld, dass die überraschende Ernennung des französischen Ex-Kommissars Michel Barnier als Brexit-Chefunterhändler am 1. Oktober 2016 ein eleganter Schachzug war, um den potentiellen Kandidaten der Christdemokraten für die Juncker-Nachfolge bereits bekanntzumachen, noch bevor überhaupt der offizielle Auswahlprozess beginnt. Michel Barnier war bereits Außenminister, dann in der Barroso-II-Kommission als EU-Kommissar für den Außenhandel zuständig. Jetzt führt er medienwirksam die Brexit-Verhandlungen und trifft dafür auch die verbleibenden 27 Staats- und Regierungschefs – die dann über den Kandidaten für die Juncker-Nachfolge entscheiden. Barnier ist ausreichend gesellschaftspolitisch links, „Macron-kompatibel“, um auch von den Sozialdemokraten mitgetragen werden zu können. Als Brexit-Verhandler hat er ein gutes Image im EU-Parlament.
So bietet das Europa-Parlament eine edle Bühne für das gewohnte Bild der Parteien und Politiker in Europa: Winkelzüge, Ablenkungsmanöver, Machtgerangel. Es bleibt spannend.
Fröhliche Grüße aus Brüssel,
Ihr
Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.