Brief aus Brüssel, 2013 / Dezember, 08.12.2013
Brief aus Brüssel, Dezember 2013
Eigentlich sollte 2014 ein „Jahr der Europäischen Union zur Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben“ werden. Vor allem Mitglieder des Europäischen Parlaments und die COFACE (Verband der Familienorganisationen in der EU) engagierten sich dafür, wenngleich aus unterschiedlichen Beweggründen. Wäre ein Themenjahr 2014 zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der EU politisch opportun, gewünscht oder gar notwendig, würden das Europäische Parlament und der Ministerrat eine gemeinsame Position dazu im Rahmen der Dezember-Plenarsitzung unterzeichnen. Nur unter dieser Voraussetzung hätte das Themenjahr pünktlich im Januar 2014 in Kraft treten können. Verschiedene Gründe sprechen nun dafür, dass es nicht zu solch einem Themenjahr kommt.
- 2014 ist Wahljahr. Am Sonntag, dem 28. Mai 2014, wird das 8. Europäische Parlament gewählt, Rat und Parlament berufen daraufhin die neue politische Führung der EU-Kommission. Neue Mehrheiten im Parlament und neues Spitzenpersonal in der Kommission verändern auch die politischen Prioritäten von 2014 bis 2019. Dem wollen die heutigen Amtsträger nicht vorgreifen.
- Der Politikbereich „Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Privatleben“ ist Bestandteil der EU-Arbeitsmarktpolitik. Davon sind vor allem die Sozialpartner betroffen. Die inhaltliche Ausrichtung und organisatorische Durchführung eines entsprechenden Themenjahrs obläge der Generaldirektion „Beschäftigung, Soziales und Integration“, sowie den Sozialpartnern. Die Konsultation der europäischen Sozialpartner könnte ein Themenjahr überflüssig erscheinen lassen. Nach der Armutsbekämpfung (2010) sowie dem aktiven Altern und der Solidarität zwischen den Generationen (2012) wäre es das dritte Themenjahr dieser Legislaturperiode für eine insgesamt glücklose Generaldirektion. Deren ersten Themenjahre hinterließen keine bleibenden politischen Resultate. Im Brüsseler Institutionenstreit um Personalkürzungen muss die „GD Beschäftigung“ außerdem von allen Generaldirektionen anteilig die meisten Beamtenstellen streichen. Zudem erfährt sie eine politisch gesteuerte Verminderung ihrer politischen Bedeutung. Da würde zu viel Aufmerksamkeit störend wirken. Ferner gibt es noch 27 weitere Kommissare, die auch gerne mal ein Themenjahr gestalten möchten. Die nach mehreren politischen Fehltritten an Wahrnehmbarkeit verlierende COFACE setzte sich vor allem aus finanziellem Überlebenswillen so intensiv für ein Vereinbarkeitsjahr ein, denn jedes Themenjahr öffnet lukrative Fördertöpfe.
- Inhaltlich bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang die Frage nach einer geeigneten Rechtsgrundlage und den Definitionen: EU-Kommission und Ministerrat haben als Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Anna Záborská (Slowakei) bestätigt, dass das Gemeinschaftsrecht keine Definition von „Familie“ oder „Privatleben“ kennt. Ohne Rechtsgrundlage und einheitliche Definition kann es auch keine Gemeinschaftspolitik geben. Das gilt für alle Politikbereiche. Gleichwohl verfügt die EU über eine Rechtsgrundlage für die Familienpolitik und könnte davon im Rahmen der Vereinbarkeitspolitik Gebrauch machen. Art 81 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union über „Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen“ sieht nämlich in Absatz 3 ausdrücklich „Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug“ vor. Aber dieser Artikel legt gleichzeitig auch die Vorgehensweise fest. Wörtlich heißt es da: „Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einen Beschluss erlassen, durch den die Aspekte des Familienrechts mit grenzüberschreitendem Bezug bestimmt werden, die Gegenstand von Rechtsakten sein können, die gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Der genannte Vorschlag wird den nationalen Parlamenten übermittelt. Wird dieser Vorschlag innerhalb von sechs Monaten nach der Übermittlung von einem nationalen Parlament abgelehnt, so wird der Beschluss nicht erlassen. Wird der Vorschlag nicht abgelehnt, so kann der Rat den Beschluss erlassen.“ Damit die EU also einen familienpolitischen Beschluss erlassen kann, muss inhaltlich ein grenzüberschreitendes (transnationales) Anliegen vorliegen, also ein Politikvorhaben, das die Familienpolitik aller 28 Mitgliedsstaaten gleichermaßen betrifft. Dafür bedarf es der Einstimmigkeit im Rat. Das EU-Parlament wird nur angehört, und ein einziges von 28 nationalen Parlamenten kann mit einem Vetorecht die ganze Prozedur zu Fall bringen. Es bestehen hier also sehr viele dicke Brandschutztüren für den Fall, dass die Vereinbarkeitspolitik aus der EU-Arbeitsmarktpolitik herausgelöst und als eigenständige „Familienpolitik“ behandelt wird.
- Vereinbarkeitsfragen wurden inhaltlich soweit möglich bereits im EU-Jahr zur Generationengerechtigkeit im Hinblick auf die Betreuung pflegebedürftiger alter Familienmitglieder bearbeitet. Diese Argumentationslinie scheidet als Begründung für ein Jahr der Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf also aus. Und für eine EU-Politik, die die Ehe zwischen Mann und Frau als Grundlage einer nachhaltigen Familienpolitik bevorzugt behandelt, gibt es weder Mehrheiten noch den politischen Willen. Die EU steckt hier politisch in einer Patt-Situation.
- Aus den genannten Gründen ist die gern als Vorgabe oder sogar als Richtlinie bezeichnete Empfehlung, für ein Drittel der Kleinstkinder Krippen vorzuhalten, eben auch nicht mehr als eine unverbindliche Empfehlung. Wörtlich heißt es in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats vom 15. März 2002 (in Barcelona) für eine „verstärkte Beschäftigungsstrategie“ unter Punkt 32: „Die Mitgliedstaaten sollten Hemmnisse beseitigen, die Frauen von einer Beteiligung am Erwerbsleben abhalten, und bestrebt sein, nach Maßgabe der Nachfrage nach Kinderbetreuungseinrichtungen und im Einklang mit den einzelstaatlichen Vorgaben für das Versorgungsangebot bis 2010 für mindestens 90 % der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schulpflichtalter und für mindestens 33 % der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen“. Von einer verbindlichen Vorgabe oder selbst Empfehlung kann also nicht die Rede sein.
Die Vereinbarkeitspolitik bleibt eine Komponente der Arbeitsmarktpolitik. Sie zielt darauf, jede erwerbsfähige Person in den aktiven Arbeitsmarkt zu integrieren. Mutterschutz und Elternzeiten werden als Beiwerk akzeptiert, weil europäische Mindeststandards nicht umgangen werden können. Der EU-Vertrag kennt nur Bürger und Arbeitnehmer, kennt aber die Begriffe „Väter“ und „Mütter“ nicht. Für Familie und Privatleben gibt es keine rechtlich verbindlichen Definitionen im EU-Vertrag. Deshalb kann eine gemeinschaftliche Vereinbarkeitspolitik notwendigerweise nur die Positionen von Arbeitnehmern und Unternehmen fördern, nicht jedoch die Anliegen von Vätern, Müttern und Familien. Ein EU-Themenjahr hätte dieses Problem auch nicht gelöst. Der Vorteil: Es steht den Mitgliedsstaaten frei, im Bereich Familie und Beruf nationalstaatliche Regelungen zu treffen.