Brief aus Brüssel, 2014 / Juli, 11.07.2014
Die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitgliedsstaaten (Europäische Rat) haben den nach einer Geheimdienstaffäre aus der Regierungsverantwortung abgewählten Luxemburger Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker zum Kandidaten für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission. Eine öffentliche Anhörung, wie für die weiteren 27 Fachkommissare üblich, gab es dafür nicht. In der Berichterstattung über den umstrittenen Kandidaten für Europas wichtigstes Amt wurde kaum erwähnt, dass der Europäische Rat bei diesem ersten Gipfeltreffen in Europas neuer Legislaturperiode auch eine strategische Agenda der wichtigsten politischen Prioritäten für die nächsten fünf Jahre verabschiedet hat (Dokument EUCO 79/14, Anhang 1). Wie andere Zentralverwaltungen funktioniert nämlich auch die EU im Rhythmus von Fünf- oder Zehnjahresplänen. Dazu wird in „strategischen Leitlinien“ die gesetzgeberische und operative Programmplanung für die kommenden Jahre festgelegt. So sollte zwischen den Jahren 2000 und 2010 der „Lissabon-Prozess“ die EU zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt machen. Das hat nicht funktioniert. Der jetzige Zehnjahresplan „Europa 2020“ wird im kommenden Jahr seinem politischen Halbzeittest unterzogen. Die Prognosen über die Einhaltung der Zielvorgaben sind nüchtern.
Familienpolitische Grundsätze der EU-Arbeit
Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 26. und 27. Juni sind von der Überzeugung geleitet, nur noch mehr EU sei die Lösung, wie es beispielsweise das „Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik“ verkörpert. Diese Prozedur ermächtigt die Brüsseler Beamten, in die Haushaltsplanentwürfe der Mitgliedsstaaten noch vor ihrer Verabschiedung durch die nationalen Parlamente einzugreifen. Dann wiederum kündigt der Rat an: „Gemäß den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sollte die Union … Zurückhaltung üben, wenn die Mitgliedstaaten die gleichen Ziele besser erreichen können. Die Glaubwürdigkeit der Union hängt von ihrer Fähigkeit ab, ihren Entscheidungen und Zusagen angemessene Taten folgen zu lassen. Hierfür sind starke und glaubhafte Organe erforderlich, wobei eine stärkere Einbindung der nationalen Parlamente ebenfalls von Nutzen ist. Im Vordergrund sollten vor allem konkrete Ergebnisse stehen.” Eine bessere Union durch weniger Integration, mehr nationale Verantwortung und stärkere nationale Parlamente – könnte man nicht auch damit auf die Zukunftsfragen der EU antworten?
Angesichts der widersprüchlichen Ankündigungen ist es von Vorteil, nachzuverfolgen, was nicht im Text steht:
Die Staats- und Regierungschefs erkennen zwar die demografischen Entwicklungen als Herausforderung und die Bevölkerungsalterung als zusätzliche Gefahr für die Sozialsysteme an, aber sie verweigern eine vorrangige Option für die Familie. Die im Jahre 2002 beschlossene Barcelona-Strategie zur Förderung der staatlichen Kinderbetreuung bleibt Bestandteil der Arbeitsmarkt- und Wachstumspolitik. Das Grundverständnis der EU ist offenbar, dass Kinder und Mutterschaft ein Hemmnis zur Selbstverwirklichung der Frau und eine vermeidbare Ursache von Geschlechterdiskriminierung sind. Der Europäische Rat schweigt zur längst überfälligen Anerkennung der nicht-monetären Wirtschaftsleistung von Frauen und Mütter. Die EU weigert sich, Wohlstand, Wohlfahrt und Bruttoinlandsprodukt (BIP) lebensnah zu messen, ausgehend von der kleinsten sozialen Einheit aller Mitgliedsstaaten: der Familie. „Familienmainstreaming“ statt „Gendermainstreaming“, dafür hätten sich vor allem die Prioritäten „Innovation“, „Integration“ und „Solidarität zwischen den Generationen“, sowie die Schwerpunkte „informelles Lernen“, „neue Kompetenzen“ und „neue Beschäftigungsmöglichkeiten“ angeboten.
Arbeitsmarktpolitik soll auch im neuen Fünfjahrplan nicht durch die Integration einer auf Familienbedürfnisse und -interessen ausgerichteten Perspektive ergänzt, und mithin effizienter werden. Echte Wahlfreiheit ist weiterhin keine Option, denn die EU definiert sich als grenzüberschreitenden Arbeitsmarkt und steuert die nationale Arbeitsmarktpolitik von Brüssel aus. Davon sind ausnahmslos alle Bürger in allen Mitgliedsstaaten und auch die Familie betroffen.
Nachhaltiger Einfluss der Lobbyisten
Wie wird sich das EU-Parlament dazu positionieren? Das ist nach der konstituierenden Sitzung des Frauen-Ausschuss‘ noch nicht ganz deutlich. Üblicherweise werden die Positionen im EP mathematisch nach der Verteilermethode von D’Hondt zugewiesen, um die Postenverteilung ideologiefrei zu gestalten. Die spanische Abtreibungs-Aktivistin Iratxe Garcia Pérez (S-D Fraktion) wurde zur Vorsitzenden gewählt. Die Portugiesische Kommunistin Inês Cristina ZUBER wurde stellvertretende Vorsitzende. Dabei verlor sie noch bei der letzten Plenartagung des ausgehenden EU-Parlaments Ende April ihren Bericht zur Gleichstellungspolitik, in dem sie sich für europaweite Abtreibung und die von der EU geförderte Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe aussprach sowie Mutterschaft als Diskriminierungsmerkmal von Frauen bezeichnete. Nach den EU-Wahlen ist das alles schon wieder vergessen. Beide Kandidatinnen wurden ohne Aussprache und per Akklamation mit der ausdrücklichen Zustimmung der EVP (CDU, CSU, ÖVP) ernannt. Nur bei der Ernennung des operationell überflüssigen Postens der 4. Vizepräsidentin, für den Beatrix von Storch (AfD) vorgesehen war, beantragte eine unübliche Koalition von CDU-CSU, Die Linke, FDP, Grüne und SPD eine geheime Wahl, ohne diesen Antrag durch stichhaltige fachliche Argumente zu begründen. Die konstituierende Sitzung des Frauenausschusses hat verdeutlicht, dass Nichtregierungsorganisationen die Arbeit dieses Ausschusses weiterhin sehr nah verfolgen.
Der nächste Schritt ist die Plenarsitzung des Europäischen Parlaments am 15. Juli 2014. Dort stellt sich der designierte Präsident der EU-Kommission vor. Wird Jean-Claude Juncker eigenständig auf die Notwendigkeit eingehen, eine „vorrangige Option für die Familie“ in die betroffenen Politikbereiche einzuschreiben? Wird er ankündigen, die Bedürfnisse von Ehe und Familie auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu schützen, insbesondere in der Arbeitsmarktpolitik und Anti-Diskriminierungspolitik stärker in den Mittelpunkt zu rücken?