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Brief aus Brüssel

Schwankende Posten und Mehrheiten

By 2. November 2016Februar 28th, 2022No Comments
Brief aus Brüssel, 2016 / Oktober, 02.11.2016

Es kommt manches durcheinander in der EU. Während die Eurokrise nach wie vor Millionen Sparguthaben vernichtet, tritt eine EU-Kommissarin offenbar wegen des  Büroleiters von Kommissionspräsident Jean Claude Juncker zurück. Dabei denkt Juncker selbst, wie man immer wieder hört, über einen Rücktritt nach. Parlamentspräsident Martin Schulz dagegen will nicht wie verabredet seinen Posten räumen. Und Konservative treten wie Die Linke für die Abschaffung des Subsidiaritätsprinzips ein.

Zunächst die „Rettung des Euro“:  Obwohl Griechenlands Reform-und Schuldentragfähigkeit  Dauerproblems sind, weigern sich die Verantwortlichen in der EU und der Eurozone beharrlich, diese Wirklichkeit anzuerkennen und den bankrotten Staat Südeuropas aus dem Euro herauszuführen – ein Szenario dafür ist politisch nicht gewollt. Frankreich, Spanien und Portugal halten die europäischen Defizitregeln nicht ein. Dafür werden sie nicht bestraft, obwohl Maßnahmen vorgesehen sind. Das liefert Italien eine Steilvorlage, sich ebenfalls nicht an die Regeln zu halten und die Defizitobergrenze erneut zu durchbrechen. Die blauen Briefe der EU-Kommissare Dombrowskis (zuständig für den Euro und die Finanzstabilität) und Pierre Moscovici (Wirtschaft und Finanzen) kann Regierungschef Renzi getrost als Formsache ohne Konsequenzen ansehen. Schließlich wurde Frankreich, Spanien und Portugal in der Vergangenheit auch nur gedroht, und keine der vorgesehenen Strafen wurde je angewandt. Es lebe die Flexibilität des Rechts….

Immerhin, das Wirtschafts- und Handelsabkommen mit Kanada (CETA) wurde von der EU jetzt doch noch unterschrieben, nachdem man zwei Regionen Belgiens zum Nachsitzen gezwungen hatte. Als ob man das nicht hätte vorher erkennen und regeln können.

Dann die Kommission: Die Bulgarin Kristalina Georgieva wirft das Handtuch und kehrt zu ihrem alten Arbeitgeber, der Weltbank, zurück. Grund soll die Einmischung von Junckers Büroleiter Martin Selmayr sein. Die für den EU-Haushalt und die Personalverwaltung zuständige Vizepräsidentin hatte offenbar die Nase voll von dem als aalglatt bekannten Kommissionsbeamten. In Brüssel munkelt man, dass Selmayr sich gerne als Vertrauter von Bundeskanzlerin Merkel gebe und im Namen seines Chefs in die Ressorts hineinregiere. Eine derart unkontrollierte Einmischung eines Spitzenbeamten in die politischen Entscheidungen der Kommissare wäre, milde gesagt, „unprofessionell“. Möglicherweise wird aber bald auch  Selmayer selbst wechseln. Denn sein Chef, Jean-Claude Juncker, denkt angeblich über einen Rückzug nach. Damit würde er seiner Parteienfamilie, der Christdemokratischen Volkspartei, ermöglichen,  ihren Anspruch auf das Amt des Parlamentspräsidenten durchzusetzen. Der  Sozialdemokrat Martin Schulz will sich nicht mehr an die zu Beginn der Legislaturperiode eingegangenen Absprachen halten und den Posten – wie seit Beginn des EU-Parlaments üblich – zur Halbzeit der Legislaturperiode übergeben. Als Grund wird allgemein angeführt, dass im Falle des Farbenwechsels an der Spitze des EU-Parlaments alle drei EU-Institutionen (die Kommission, der Rat der EU und das Parlament) von Vertretern der Christdemokraten geführt werden würden.

Das ist farblich zwar richtig, entspricht jedoch politisch nicht der Wirklichkeit: Ratspräsident Donald Tusk gehört in seinem Heimatland Polen der Plattforms-Partei an. Diese steht am linken Rand der Christdemokraten, nach deutscher Lesart stünde er im linksliberalen Lager. Die Plattform-Partei hat zum Beispiel die Unterstützung von Ehe und Familie längst aufgegeben, spricht sich für die Homo-Ehe und weitgehend liberale Regeln für Abtreibung aus. Junckers „Christlich Soziale Volkspartei“ ist ebenfalls Mitglied der EVP, aber sie wird auch dem linken Rand zugerechnet. Es reicht dafür aus, die Mandatsträger auf europäischer Ebene zu beobachten und sich daran zu erinnern, dass die CSV der „Ehe für alle“ sowie dem Euthansiegesetz in Luxemburg vorbehaltlos zustimmte. So gesehen könnte Martin Schulz also bequem seinen Sessel als Parlamentspräsident räumen, ohne dass die Linken in Europa faktisch an Macht verlören. Aber Martin Schulz will sich an getroffene Absprachen nicht mehr halten, es sei denn er findet einen neuen Job in der Bundesregierung, etwa an Stelle von Frank-Walter Steinmeier, wenn dieser zum Bundespräsidenten gewählt werden sollte und das Amt des Bundesaußenministers frei würde – für Schulz. Sollte Juncker nun tatsächlich zurücktreten, könnte der erste Vizepräsident der Kommission Frans Timmermans zum Kommissionspräsidenten ernannt werden. Er ist Sozialdemokrat und könnte damit die Stelle im Brüsseler Personal-Puzzle ausfüllen. Auch hier: Es lebe die Flexibilität der Absprachen….

Für die Verteidiger von Ehe und Familie in der EU wäre diese Rochade sicher kein Gewinn. Denn Timmermanns würde dann vermutlich gleich den neuen Überwachungsmechanismus anwenden, über den das EU-Parlament am 25. Oktober abgestimmt hat. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmung waren erstaunlich: CDU und CSU stimmten geschlossen an der Seite der Grünen und der SED-Nachfolgepartei Die Linke für die Abschaffung des Subsidiaritätsprinzips bei der Anwendung der Grundrechte-Charta. Damit  verwirft das EU-Parlament  die Eigenständigkeit der Mitgliedsstaaten in Wertefragen. Das ist deswegen eine wichtige Nachricht aus Brüssel, weil die Vertreter von Familienverbänden nicht mehr auf CDU und CSU bauen können, um die Interessen von Ehe und Familie in der Politik zu fördern und zu verteidigen.

Der Überwachungsmechanismus bedeutet, daß man de facto nicht mehr durch ordentliche Vertragsverletzungsverfahren beim EuGH das Recht auf Anerkennung eigener Gesetze bei gesellschaftspolitischen Fragen erstreiten kann. Vielmehr kann jetzt durch einen politisierten Parallelmechanismus der Widerstand großer Teile der Bevölkerung in zentraleuropäischen Mitgliedsstaaten gegen die Regelungswut der EU in gesellschaftlichen Wertefragen gebrochen werden. Das kann sich auch gegen die katholische Kirche wenden. Die Folgen für die Zustimmung zur EU in Osteuropa und damit für die EU allgemein sind nicht absehbar. Ob man sich in Brüssel und Straßburg über den Willkür-Charakter solcher Abstimmungen im Klaren ist?

Autorin dieses Überwachungsmechanismus ist übrigens die niederländische Liberale Sophie In’t Veld. Sie sitzt mit der deutschen FDP in einer Fraktion. Sie ist Vorsitzende der „Parlamentarischen Plattform für Säkularismus in der Politik“, eine Vereinigung engagierter  Atheisten, die den Einfluss von Religion und Spiritualität bei der Gestaltung des Gemeinwohles bekämpfen. Sie leitet ebenfalls die Arbeitsgruppe Reproduktionsgesundheit, deren Mitglieder sich für ein allgemeines Recht auf Abtreibung in der EU und ihren Mitgliedsstaaten einsetzen. Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende der LGBT-Intergruppe des EU-Parlaments. Dieses Beispiel illustriert erneut die effiziente Zusammenarbeit linker Lobbygruppen mit dem EU-Parlament. Daher ist es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet die Europaabgeordneten von CDU und CSU blindlings diesem neuen Instrument zustimmten. Es lebe die Lobby…..


Beste Grüße aus Brüssel,
Ihr
iDAF-Team