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Brief aus Brüssel

Nach den Wahlen und dem Postengeschiebe: Rückblick und Ausblick

By 3. Juli 2019Februar 28th, 2022No Comments
Brief aus Brüssel, 2019 / Juni, 03.07.2019

Man muss die Ereignisse in Brüssel im Kontext sehen. Deshalb zuerst ein Rückblick: Vor der Wahl zum Europa-Parlament erlebten die Wähler Politikaffären in Österreich und Medienmanipulierung in Frankreich. In Österreich löste eine Politik-Affäre die andere ab. Beide Male traf es die FPÖ. Zuerst gab es eine Plagiatsaffäre, die auch OLAF, das Europäische Anti-Betrugsamt, beschäftigt. Fraktionsmittel des EU-Parlaments wurden bereitgestellt für eine Studie des Beraterbüros „Edition K3 – Gesellschaft für Sozialpolitische Studien Verlags- und Beratungs GesmbH“ der Söhne des früheren FPÖ-Europa-Abgeordneten Andreas Mölzer. Das ist prinzipiell nicht verwerflich. Harald Vilimsky, Spitzenkandidat der FPÖ, bekundete öffentlich seine Unschuld und, jetzt wird das Geschmäckle schon intensiver, fand auch nichts Unanständiges daran, dass eine wissenschaftliche Studie aus Wikipedia-Versatzstücken zusammenkopiert wurde und dass Parlamentsgelder für solch eine Gefälligkeitsstudie an Parteifreunde umgeleitet werden. Die österreichische Antifa-Gruppe „Stoppt die Rechten“ erstattete jedenfalls Anzeige, jetzt ermittelt das Europäische Antibetrugsamt OLAF gegen Vilimsky wegen Scheinauftrag, Querfinanzierung von Parteiaktivitäten und Betrug (Az: OC/2019/0483). So einfach kann man es der Antifa machen…

Dann brach die Ibiza-Geschichte in den Wahlkampf. Verzweifelt startete die FPÖ eine Vorzugsstimmenkampagne für Hans-Christian Strache, den Looser von Ibiza. Das brachte ihm zwar die höchste Anzahl an Vorzugsstimmen. Doch die FPÖ hat heute einen Sitz weniger im EU-Parlament (jetzt drei statt der erhofften fünf) und trägt Mitverantwortung für die Verluste bei vielen anderen nordischen konservativen Parteien, die alle über einen gleichen Kamm geschoren und in Mithaftung genommen wurden. Einige Tage wollte Strache sein EU-Mandat auch annehmen nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.

In Frankreich kam es am Vortag der EU-Wahlen in Lyon zu einem terroristischen Attentat mit einer Paketbombe. Die Öffentlichkeit wurde nicht informiert. Staatspräsident Emmanuel Macron bummelte zu diesem Zeitpunkt sowieso schon der Nationalen Sammlungsbewegung von Marine Le Pen hinterher. Die Meldung eines terroristischen Attentats in Frankreichs drittgrößter Stadt am Vortag der Wahl hätte vermutlich nur weitere Stimmen für Le Pen gebracht. Im Nachhinein fragt man sich, warum die Institutionen der EU mit ungeheurem Aufwand vor der Wahl alle möglichen „Schutzwälle gegen Desinformationen“ auftürmten, mit Steuergeldern reichlich bezahlten und das EU-Parlament gar eine eigene Direktion für politische Kampagnen mit Faktenüberprüfern gründete (wo Verwaltungsbeamte den Abgeordneten Vorschriften über Twittermeldungen machten). Auch wurden Haushaltsmittel freigegeben vor dem Hintergrund politischer Entscheidungen, die ihrerseits auf einer aufgebauschten Angst vor Manipulierung durch Russland, China oder die USA gründeten. Nun stellt man fest, dass die klassischen Volksparteien trotzdem ziemlich überall verloren, und dass die eigentliche Manipulierung viel eher durch die eigenen Regierungen geschah, welche Nachrichten bewusst zurückhalten, um mögliche Wahlerfolge nicht zu gefährden.

Diese Erfolge gab es nicht. Wahlsieger sind die Euro-Realisten und die Euro-Kritiker. Sie legten im Vergleich zur EVP (CDU, CSU, ÖVP) deutlich zu und könnten in der neuen Legislaturperiode den stärksten Stimmblock im EU-Parlament bilden. Die Christdemokraten unter Leitung des CSU-Politikers Manfred Weber verloren hingegen zum zweiten Mal in Folge massiv an Stimmen. Aus Deutschlands Spitzenkandidat wurde  Europas Spitzenverlierer. Numerisch führt die EVP zwar mit 182 Stimmen die größte Fraktion, doch darin sind noch die 13 Fidesz-Abgeordneten aus Ungarn einbezogen, obwohl die offiziell mit der EVP nichts mehr zu tun haben sollen. Viktor Orban kündigte vor der Wahl an, er werde Weber nicht unterstützen und Weber verzichtete auf diese Unterstützung mit dem Hinweis, sich nicht „von den Rechten“ wählen lassen zu wollen. Nimmt man als Wähler und Bürger die Ankündigungen der Europapolitiker ernst, und das betonen ja alle, dann kommt die EVP rechnerisch also nur auf 169 Stimmen. Schlägt man hingegen rechnerisch die 13 Fidesz-Ungarn mit der EKR-Fraktion und der neuen Fraktion Identität & Demokratie sowie den 29 Brexit-Parlamentariern von Nigel Farage zusammen, kommt dieser Stimmenblock auf 177 Stimmen – also fünf Stimmen mehr als die EVP und knapp 20 mehr als die Sozialdemokraten.

Aber dieser Stimmenblock bildet sich noch nicht. Zunächst bilden sich neue, mittelgroße Fraktionen. Vor der Wahl Jörg Meuthen von der AfD angekündigt, die größte Fraktion rechts neben der EVP zu bilden. Es entstand die Fraktion „Identität und Demokratie“, kurz: I.D. Sie versammelt die italienische Lega von Salvini (28 Mitglieder), die französische Sammlungsbewegung von Marine Le Pen (22 Mitglieder) und die deutsche AfD (11 Mitglieder) sowie Abgeordnete aus Österreich (FPÖ), Belgien, Dänemark, Finnland, der Tschechischen Republik und Estland – insgesamt 73 Abgeordnete aus 9 Mitgliedstaaten. Sie ist numerisch die fünfte Fraktion (zwei Mitglieder hinter den Grünen) und die erste konservative Fraktion nach den Christdemokraten. Die stolze EKR hat nur noch 62 Mitglieder und rutscht von Rang drei auf Rang sechs. Überraschend kam Europa-Feind Nigel Farage zwar mit 29 Abgeordneten seiner aus dem Handumdrehen gegründeten Brexit-Partei ins EU-Parlament zurück, aber er findet keine Koalitionspartner mehr für eine eigene Fraktion. Das Vertrauen ist verspielt und sein Spektakel am ersten Sitzungstag in Straßburg war geradezu symbolisch. Dieser Mann ist eigentlich nur noch gut für den Auszug. Nigel Farage hat sich gründlich verzockt. Er wird nur noch ein politisches Leben am Rande bei den Fraktionslosen fristen.

Der Ausblick ist nebulös. Die verschiedenen mathematischen Möglichkeiten zur Mehrheitsbildung im Plenum des neuen EU-Parlaments wirken sich unmittelbar auf die Gestaltung der Tagesordnung aus. Deutlich wird das beispielsweise daran, dass das EU-Parlament sich nicht wie üblich am ersten Tag seiner Konstituierung einen Präsidenten wählte. Man wartet ab und gibt sich Zeit. Auch der Europäische Rat hatte Probleme mit seinem Personaltableau. Zwar dürfte die Option Ursula von der Leyen im Parlament eine knappe Mehrheit finden, weil auch die Sozialisten und die Liberalen mit hohen Posten abgefunden wurden und die Sozialisten damit rechnen, daß ihr Kandidat Frans Timmermans in der Kommission eine bestimmende Rolle spielen und sich an den Osteuropa-Staaten, die ihn verhindert haben, rächen wird. Timmermans  war der Chefinquisitor der Juncker-Kommission mit ausgeprägt radikalen linksliberalen Ansichten. Wahrscheinlich ist auch die Absegnung des spanischen Sozialisten und Außenministers Josep Borrell als Hoher Repräsentant für die Europäische Außenpolitik, also der Möchtegern-Außenminister, der in Wirklichkeit nicht mehr ist als ein  Frühstücksdirektor mit angeschlossenem Reisebüro. Aber über die Mehrheiten jenseits dieser Wahlen lässt sich kaum etwas sagen. Sicher ist: Durchregieren geht nicht mehr, es wird zu wechselnden Mehrheiten kommen und die Ächtung der sogenannten Rechtspopulisten wird schneller verblassen als die aktuellen Regierungschefs heute ahnen. Das Postengeschacher von Brüssel hat gezeigt, wie tief die selbsternannten Verteidiger Europas in nationalen und ideologischen Gräben sitzen. Sie eint nur der Kampf gegen die Euro-Realisten, die einen europäischen Zentralstaat, die Vereinigten Staaten von Europa ablehnen – wovon die künftige Kommissionspräsidentin allerdings träumt und wofür sie eintritt. Böse Stimmen im Parlament meinen: Das war Merkels Meisterstück. Sie hat eine unfähige Ministerin nach Brüssel entsorgt und der CDU unangenehme Untersuchungsausschüsse erspart. Jetzt kann Frau von der Leyen die EU-Kommission so runterwirtschaften wie die Bundeswehr. Es wird jedenfalls spannend am Rheinufer in Strasbourg.

 

Von dort grüßt herzlich,

Ihr

Junius

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.