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Brief aus Brüssel

Nach dem Schotten-Votum: Das Signal aus den Highlands sendet noch

By 1. September 2014März 1st, 2022No Comments
Brief aus Brüssel, September 2014

Brief aus Brüssel, September 2014

Mit dem Schotten-Votum ist nicht alles vorbei, ein Business as usual wird es nicht geben. Denn das Referendum in Schottland war keine vereinzelte Aktion, das Bestreben der Yes-Schotten und anderer Bevölkerungsteile in mehreren Regionen Europas nach mehr Zuständigkeiten und Autonomie stellt den Verlauf des europäischen Integrationsprozesses der letzten zwanzig Jahre in wesentlichen Teilen in Frage. Der EU-Vertrag sieht keine Regeln für den Fall vor, dass ein Mitgliedsstaat die Unabhängigkeit einer Region beschließt. Wird eine Region aufgrund eines demokratischen Votums eigenständig, wird sie umgehend aus der EU ausgeschlossen und gilt als Drittland ohne Kooperationsabkommen. Selbst die Ukraine oder die Türkei als mögliche Beitrittskandidaten verfügen heute über mehr Privilegien als eine potentiell souveräne Region Schottland, Flandern, Katalonien, Südtirol, Korsika oder das Baskenland. Das ist absurd und dennoch logisch. Denn regionale Vielfalt wird nur im Rahmen der zentralen Vorgaben aus Brüssel geduldet. Das Narrativ vom „Europa der Regionen“ dient vor allem dazu,  Kritiker eines europäischen Zentralstaats zu beschwichtigen. Diese Erzählung aber ist noch nicht zuende, die Katalanen könnten sie als nächste aktualisieren. Deshalb ist die Suche nach einem Happy end, nach einer verfassungsmässigen Lösung für die Vielfalt in der Einheit nach wie vor sinnvoll.

Ein praktischer Lösungsweg liegt im realen Umgang mit dem Subsidiaritätsprinzip.  Hier zeigt sich, wes Geistes Kind in Brüssel herrscht oder wie die Zentralstaatskultur ausgelegt wird. Das Prinzip wurde in der katholischen Soziallehre durchdacht und formuliert und genießt seit „Rerum novarum“ und vor allem seit „Quadragesimo anno“ (1931)  weltweite Anerkennung, wenigstens theoretisch. 1992 wurde das Subsidiaritätsprinzip in den Maastricht-Vertrag eingeführt und ist mithin offizieller Bestandteil der EU-Politik. Die nationalen Parlamente sollen seine Einhaltung überwachen. In der Praxis klappt das zumindest in Deutschland nicht gut. Ein Grund dafür ist die Sprachhürde: Die EU-Kommission legt die für eine Subsidiaritätsprüfung notwendigen Schriftsätze nur in Englisch vor. Deutsche Übersetzungen fehlen, denn die – auch von Bundeskanzlerin Merkel (CDU) durchgesetzten  – Einsparungen in der EU-Verwaltung führten zu Rationalisierungen bei den Übersetzerdiensten. Fachenglisch verstehen jedoch nur wenige Beamte (altersunabhängig) im Bundestag und Bundesrat bzw. in den Landesparlamenten. Und für amtliche Übersetzungen fehlt die Zeit.

Wer das Subsidiaritätsprinzip ernst nimmt, muss nicht nur den Nationalstaaten, sondern auch den  Regionen wesentliche Zuständigkeiten einräumen. Wie sollen andernfalls die untergeordneten Verwaltungseinheiten ihre Aufgaben erfüllen, wenn der Staat bzw. die EU omnipräsent durchregiert? Die vollständige Autonomie Schottlands wurde nicht erreicht, aber London muss die gemachten Zugeständnisse, beispielsweise in der Sozialpolitik, einlösen. Die schottische Regionalregierung kann jetzt ihrerseits beweisen, dass sie Schottland in der Tat besser zum Wohle aller Familien regieren kann, weil sie näher am Menschen ist. Dazu gehört auch, darauf zu achten, dass die Familien als grundlegende gesellschaftliche Einheit in der Tat über sich und ihre Lebensform selbst entscheiden können (echte Wahlfreiheit), und dass die errungenen Zuständigkeiten nicht wieder durch die EU neutralisiert werden. Ein durch neue Zuständigkeiten gestärktes Schottland wäre ein deutliches Signal nach Brüssel, die Subsidiaritätsprüfung durch regionale Parlamente ernster zu nehmen als bisher.

Das ist auch eine Chance für die neue EU-Kommission. Sie kann, ohne das Gesicht zu verlieren, manchen Gesetzesentwurf einfach wieder neu erarbeiten oder ganz verschwinden lassen, sofern er einer Subsidiaritätsprüfung durch Schottland, Flandern, Katalonien, Südtirol, Korsika oder das Baskenland nicht standhalten konnte. Aus diesen Regionen könnte deshalb künftig ein frischer Impuls für die Wiederbelebung des Subsidiaritätsprinzips ausgehen. Zu wünschen wäre es – nicht nur für die Regionen, sondern auch für Europa. Das Signal aus den Highlands sendet noch.

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.