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Brief aus Brüssel

Martin Schulz, die Regeln und die Normalität in Brüssel und Straßburg

By 30. Januar 2017Februar 28th, 2022No Comments
Brief aus Brüssel, 2017 / Januar, 30.01.2017

Martin Schulz ist weg, es kehrt wieder Normalität am Place de Luxembourg im Europaviertel der belgischen Hauptstadt Brüssel ein. Aber Martin Schulz bleibt auch, und zwar als einfacher EU-Abgeordneter – eine Steilvorlage für jene Zaungäste, die gerne über die korrekte Einhaltung der „Haushaltslinie 400 für politische Kommunikation“ der EU-Parlamentarier wachen. Aus dieser Haushaltslinie können die Europa-Abgeordneten ihre Informationsveranstaltungen und Werbemittel bezahlen; besonders bei den Reform-Fraktionen wie den Konservativen der EKR oder den Förderern der Freiheit und der Direkten Demokratie (EFDD) werden die Kassenzettel ganz genau überprüft. Zukünftig wird man regelmäßig prüfen können, ob die Informationsveranstaltungen des EU-Abgeordneten Schulz nicht doch die Wahlkampfveranstaltungen des Kanzlerkandidaten Schulz sind.

Er bleibt auch anderweitig präsent. Einige Parlamentsbeamte und Abgeordnete haben sehr genau notiert, wie Schulz an allen Regeln vorbei regierte. Er platzierte seine Genossen auf allen Entscheidungsebenen der Verwaltung. Aber nicht nur da. Sein Parlamentsassistent Herbert Hansen wurde von Parlamentsgeldern bezahlt, leitete aber das SPD-Reisebüro „SPDition“ in seinem Wahlkreis. Entlastende Beweise legte Schulz bis heute nicht vor, er ließ die Vorwürfe versanden. Es wäre dennoch eine kleine Überraschung, wenn jetzt Journalisten Informationen darüber publik machten. Denn in den meisten Medien genießt er gutes Ansehen und da drückt man schon mal ein Auge zu.

Manchmal muss man nur aufmerksam die Augen öffnen, um Martin Schulz bei Rechtsbrüchen zuzusehen, beispielsweise bei seiner letzten Amtshandlung als scheidender EP-Präsident. Am Dienstag, dem 17. Januar 2017, leitete Schulz die Wahl seines Nachfolgers im Plenum in Strasbourg. Bei dieser Wahl assistieren üblicherweise acht Abgeordnete als Wahlhelfer. Sie werden nach dem Los-Prinzip festgelegt, unabhängig von Geschlecht, Fraktion oder Mitgliedsstaat. So sieht es die Geschäftsordnung vor. Aber das interessierte Martin Schulz nicht. Er verkörpert offenbar die Gender-Ideologie so sehr, dass er selbst das in der Geschäftsordnung als geschlechtsneutral vorgeschriebene Los-Prinzip kurzentschlossen genderte: „Sollte der nächste Wahlhelfer wieder ein Mann sein, schmeiße ich das Los weg und ziehe eine Frau.“ kündigte er an. Das mag belanglos erscheinen, aber die Frage ist erlaubt: Wie kann das EU-Parlament von den Mitgliedsstaaten (und einfachen Bürgern) die Einhaltung geltender Vorschriften einfordern, wenn der Parlamentspräsident die Regeln nach Belieben bricht? Die Rache folgte auf dem Fuß – und unter Applaus. Nachgezogen wurde die britische Labour-Abgeordnete Anneliese Dodds, Jahrgang 1978. Sie antwortete schnurstracks: Heute Abend kümmere ich mich um mein elf Monate altes Baby und werde deswegen nicht beim vierten Wahlgang anwesend sein können – sorry. Der daraufhin einsetzende Applaus war der längste des Tages bis zur Bekanntgabe des neuen Parlamentspräsidenten. Parlamentspräsident Schulz wollte sich noch einmal als Befürworter der Gender-Ideologie positionieren, doch die Lebenswirklichkeit machte einen Strich durch die Rechnung. Ausgerechnet eine Fraktionskollegin gab ihren mütterlichen Verpflichtungen Vorrang vor dem gegenderten parlamentarischen Stimmenzählen.

Schon vor der Wahl des EU-Parlamentspräsidenten für die zweite Halbzeit der Legislaturperiode war indes klar, dass sich im EU-Parlament nicht viel ändern wird. Vorabsprachen existieren weiterhin. Am Abend vor dem ersten Wahlgang schlossen Christdemokraten (EVP) und Liberale (ALDE) eine „Koalitionsvereinbarung“ für die verbleibende Zeit bis Frühjahr 2019. „Koalitionsvereinbarung“ ist dabei natürlich nur symbolisch gemeint. Es gibt in Brüssel keine Regierung und im EU-Parlament in Strasbourg keine „Regierungsmehrheit“ oder „Opposition“. Außerdem kann das Parlament keine EU-Gesetze auf den Weg bringen, und schließlich ist die EU weder Staat noch Bundesstaat. Aber der Einfachheit halber werden Begriffe aus der nationalen Politik übernommen. Die „Koalitionsvereinbarung“ von Christdemokraten und Liberalen steht unter dem Motto der schon fast vergessenen Barroso-Jahre: „Mehr zentralistisches Europa ist die Zukunft“. Die konservative EKR-Fraktion stimmte auch deswegen erst im vierten Wahlgang für den Kandidaten der Christdemokraten, weil er sich von der Koalitionsvereinbarung seiner eigenen Fraktion distanzierte und sich als „unparteiischer Präsident“ über die „pro-europäische Koalition“ stellte.

Aber auch die Sozialdemokraten von Martin Schulz waren nicht untätig. Sie mussten Mehrheiten für ihren Kandidaten zusammensuchen und versuchten das ausgerechnet bei Brexit-König Nigel Farage und bei der sonst als „populistisch“ bezeichneten Fraktion der EFDD. Deren Fraktionsvize ist die AfD-Politikerin Beatrix von Storch. Dort baten die Sozialdemokraten also um Unterstützung für den Kandidaten im vierten und letzten Wahlgang, bei dem nur noch die einfache Mehrheit zum Sieg ausreicht. Das zeigt: Die Beschimpfung der „Populisten“ ist vor allem Inszenierung. Was zählt ist der Machterhalt mit Posten, Chauffeur und Einfluss auf die Ausgaben.

Zum Beispiel auf die Subventionen für Organisationen, die Abtreibung als Mittel der Empfängnisregelung sehen. Dieses Thema wird demnächst vermutlich wieder aktuell werden. Denn der neue US-Präsident hat solchen Organisationen die staatlichen Subventionen gestrichen. Der Haushaltsausschuss des EU-Parlaments sowie die relevanten EU-Kommissare (Herr Oettinger für Haushalt, Herr Mimica für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung, Herr Andriukaitis für Gesundheit, Herr Stylianides für Humanitäre Hilfe, Frau Jurova für Gleichstellung) könnten demnächst das Haushaltsdefizit dieser Organisationen durch EU-Gelder ausgleichen. Einen Präzedenzfall dafür gibt es. Als die erste Bush-Regierung 2001 ihr Amt antrat und ebenfalls den amerikanischen Organisationen die öffentlichen Subventionen für Abtreibungstätigkeiten, wandten sich die betroffenen Organisationen kurzerhand an die EU-Kommission von Romano Prodi (Sozialdemokrat, Italien). Der Katholik Prodi blieb untätig und ließ seinem Entwicklungshilfekommissar Poul Nielsson (Dänemark) freie Hand, um das durch die gestrichenen amerikanischen Gelder entstandene Haushaltsloch der Organisationen mit EU-Mittel wiederaufzufüllen. Mit dem Bericht der dänischen Europa-Abgeordneten Ulla Sandbaek über reproduktive und sexuelle Gesundheit in der Entwicklungshilfe wurde 2003 der EU-Finanzrahmen für Abtreibung in der Entwicklungshilfe signifikant aufgestockt. Die Christdemokraten hätten den Sandbaek-Bericht als „stärkste Fraktion des EU-Parlaments“ zurückweisen und so ein Kernelement ihrer politischen Agenda bestätigen können. Sie taten es nicht und diese Enthaltung in einer wertbestimmenden Frage prägt die Arbeit der Fraktion bis heute. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass bald vermehrt amerikanische Bittsteller in Brüssel vorstellig werden, gegebenenfalls über ihre europäischen Verbündeten. Die niederländische Regierung antwortete bereits mit der Einrichtung eines eigenen „Fonds für sichere Abtreibungen“. Das ist eine nationale Entscheidung der Niederlande. Aber es kann gut sein, daß demnächst europäische Gelder der Juncker-Kommission dazu genutzt werden, die amerikanische Entscheidung für das Leben zu durchkreuzen. Es lohnt sich, Kommission und Parlament der EU auch nach dem Abgang des Martin Schulz weiter im Auge zu behalten.

Schaun wir mal. Beste Grüße,

Ihr

Junius

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.