Brief aus Brüssel, 2014 / März, 23.03.2014
Brief aus Brüssel, März 2014
Die EU ist von ihrem Charakter als gemeinsamer Binnenmarkt geprägt. Daran dürfte auch niemand Anstoß nehmen. Die Verzahnung sozialpolitischer und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen allerdings führt auch zu einer sozialen Steuerung, legitimiert durch das „Europäische Semester für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik“. Gesellschaftspolitisch aktiv wird die Union in diesem Sinn vor allem dadurch, dass sie die Rolle von Vater und Mutter zum Hindernis persönlicher Selbstverwirklichung im Arbeitsleben erklärt. Sämtliche Brüsseler Stellungnahmen der vergangenen zehn Jahre stellen Familie und Kinder als Hindernis auf dem Weg der von der EU angepeilten Selbstverwirklichung durch den Arbeitsmarkt dar.
Die Abwertung der Familie durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen der EU begann mit der „Lissabon-Strategie“ (2000-2010). Ziel dieses 10-Jahres-Plans war es, die EU zum wissensgestützt wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Umsetzungswerkzeug wurde die „Methode der offenen Koordinierung„. Sie erlaubt den Brüsseler Institutionen, in allen Politikbereichen tätig zu werden, auch außerhalb ihrer primären Kompetenzbereiche. Die Ziele der Lissabonner Agenda waren ambitioniert. Geblieben ist der Glaube an die Methode der offenen Koordinierung und die Annahme, dass die Selbstverwirklichung jedes Menschen auf dem Arbeitsmarkt stattfinde und nicht durch familiäre Verpflichtungen, vor allem Kinder, behindert werden dürfe. Kinder und Familie als Hemmnis: Dieser neue gemeinschaftliche Politikansatz wurde erstmals vom Europäischen Rat in Barcelona am 15. und 16. März 2002 formuliert. Das Erwerbshemmnis Kinderbetreuung sollte durch ein staatliches Versorgungsangebot beseitigt werden. Seither ist es Aufgabe der Mitgliedsstaaten, Hindernisse und Maßnahmen abzuschaffen, die Frauen von einer Erwerbsbeteiligung abhalten.
Im Europäischen Parlament nahmen alle Fraktionen diesen Ansatz mehr oder weniger begeistert auf und führten die Idee in verschiedenen Berichterstattungsverfahren weiter. Auch die Parlamentsverwaltung und das externe Gutachter- bzw. Expertenwesen beteiligen sich seither daran. Ein Beispiel: Die Mitglieder des Frauenausschusses wurden im Rahmen eines Studientags am 25. November 2013 zum Thema „Überprüfung der Barcelona-Ziele“ von Prof. Dr. Janneke Plantenga (Utrecht University School of Economics) informiert: „Persönliche Dienstleistungen sind für berufstätige Eltern besonders wichtig. Dies trifft insbesondere auf Kinderbetreuung zu, da Betreuungspflichten eines der größten Hindernisse für (Vollzeit-) Berufstätigkeit darstellen.“ Weiter heißt es in den Ausführungen an die Europa-Abgeordneten: „Eines der grundlegenden Probleme der politischen Agenda zur Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ist möglicherweise die Tatsache, dass Betreuungspolitik nur bis zu einem gewissen Grad zu einer „beschäftigungsgesteuerten“ Politik umgestaltet werden kann. Während Maßnahmen im Bereich der Steuerpolitik und der sozialen Sicherheit verstärkt auf die Steigerung der Beschäftigungsquote abzielen, haben auf die Betreuungspolitik auch andere Aspekte wie die Geburtenrate, Familienwerte und das Wohlergehen des Kindes Einfluss, welche nicht immer der steigenden Beschäftigungsquote von Frauen entsprechen.“ (Dokument PE 493.037, S. 11)
Der jüngste Versuch des Europäischen Parlaments, Familie und Kinder zum Stolperstein der persönlichen Selbstverwirklichung zu erklären, scheiterte am öffentlichen Widerstand nationaler Familienorganisationen. Anlass war der Jahresbericht zur „Situation der Gleichstellung von Männern und Frauen in der EU“ (Berichterstatterin: Inês Cristina ZUBER, Kommunistische Partei Portugals). Er empfahl den Mitgliedstaaten u.a., für Jugendliche ab 12 Jahren Erziehungsprogramme zur Bekämpfung gewachsener Rollenbilder zu entwickeln, um „Stereotype“ hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle, der Darstellung und des Selbstverständnisses von Frauen und Männern zu durchbrechen. Auch hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik formulierten die Berichterstatterin und der Frauenausschuss ähnliche Forderungen. Der Bericht hielt der Prüfung im Plenum nicht stand und wurde abgelehnt (A7-0073/2014).
Familie und Kinder als Hemmnis der Selbstverwirklichung von Frauen und Männern durch den staatlich geregelten Arbeitsmarkt? Dieser Ansatz ist eigentlich gar nicht so neu. Von Mark Twain wissen wir, dass sich Geschichte nicht wiederholt, sondern reimt. Und schon bei den Herren Bucharin und Preobraschensky lesen wir, dass in der Kindererziehung die Gesellschaft das Sagen habe: „Die Zukunft gehört der gesellschaftlichen Erziehung. Die gesellschaftliche Erziehung gibt der sozialistischen Gesellschaft die Möglichkeit, die künftige Generation mit dem geringsten Verbrauch an Kräften und Mitteln am erfolgreichsten zu erziehen. Die gesellschaftliche Erziehung ist daher nicht allein aus pädagogischen Erwägungen notwendig; sie bringt ungeheuer große wirtschaftliche Vorteile. Hunderte, Tausende, Millionen Mütter werden durch die Verwirklichung der gesellschaftlichen Erziehung für die Produktion und für ihre eigene kulturelle Entwicklung frei werden. Sie werden von der geistestötenden Hauswirtschaft und der unendlichen Zahl der kleinlichen Arbeiten, die mit der Hauserziehung der Kinder verbunden sind, befreit.“ [N. Bucharin und E. Preobraschensky: Das ABC des Kommunismus: Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), 1920, § 79 Die Vorschulerziehung]
Die Europäische Union gerät mit ihrem Erwerbsdirigismus in eine gefährliche Nähe zu autoritären, um nicht zu sagen, totalitären Konzeptionen von der Reglementierung des Privatlebens durch den Staat. Die glaubte man eigentlich schon überwunden zu haben. Daher stellt sich vor allem in diesem Bereich die Frage: Wie freiheitlich ist die Europäische Union?