Brief aus Brüssel, 2016 / September, 29.09.2016
Der Erfolg der Europäischen Bürgerinitiative « Einer von uns » („One Of Us“), die von 2012 bis 2013 lief, ist nachhaltig im politischen Brüssel zu spüren. Das wurde bei einer Veranstaltung im EU-Parlament am 28. September anlässlich des „globalen Aktionstags für den Zugang zu sicherer und legaler Abtreibung“ deutlich. Die Koalition unter dem Namen „All Of Us“ hat den europaweiten Erfolg von „One Of Us“ bis heute nicht verdaut. Deswegen parodiert sie auch den Namen der erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative. Unter dem Leitmotiv „Für das Recht auf Abtreibung mobilisieren“ schlossen sich einige namhafte Abtreibungsbefürworter zusammen, beispielsweise Catholics for Choice (die von der katholischen Kirche ausdrücklich nicht als Organisation anerkannt wird), die „Europäische Humanistische Föderation“ der Freimaurer, der schwul-lesbische Interessenverband ILGA-Europa, die Europäische Frauen Lobby, Marie-Stopes-International und andere. Bei dieser Veranstaltung musste „All Of Us“ einräumen, daß es nicht in der Lage ist, eine gemeinsame Erklärung abzugeben, um das Grundrecht auf Gewissensfreiheit einzuschränken. Dieses Grundrecht wird jedoch das neue Argumentationsfeld sein, um ein international verbindliches Grundrecht auf Abtreibung in den allgemeinen Rechtskodex einzuschreiben.
Zur Erinnerung: Eine Europäische Bürgerinitiative sollte nicht mit jenen Massenpetitionen verwechselt werden, die beispielsweise von Citizen Go auch ungebeten in die E-Mail-Posteingänge kommen. CitizenGO-Petitionen erreichen übrigens sehr oft nicht ihre Adressaten, weil die Emails von den Servern der angeschriebenen Institutionen als Spam erkannt und gelöscht werden. Zudem hat die Fülle, mit der CitizenGo zu Unterschriften für wenig relevante Anliegen aufruft, bei vielen Menschen in Europa den Blick für die wirklich wichtigen politischen Anliegen abgestumpft, wie derzeit beispielsweise die „Mum Dad and Kids“-Initiative zur Definition von Ehe und Familie (https://signatures.mumdadandkids.eu). Eine Europäische Bürgerinitiative ist hingegen eine im EU-Vertrag festgelegte offizielle Form der Bürgerbeteiligung zu Fragen der EU. Es handelt sich grob vereinfacht um ein „gemeinsames Volksbegehren für 28 Mitgliedsstaaten“. Die Verwaltungsvorgänge in Brüssel können dafür schon mal ein Jahr Vorarbeit in Anspruch nehmen. Die EU-Kommission prüft dann den Vorschlag für eine Bürgerinitiative auf Übereinstimmung mit dem EU-Recht und das Kommissars-Kollegium gibt grünes Licht. Dann beginnt die Laufzeit, um 1 Mio. Unterstützer-Unterschriften zu sammeln. Es ist also eine sehr offizielle Angelegenheit, die mit den Petitionsplattformen im Internet nichts gemein hat. Gerade deswegen ist es wichtig, die jetzt laufende Bürgerinitiative „Mum Dad and Kids“ zu unterstützen.
Gegenstand von „One Of Us“ war der rechtliche Schutz der Würde, des Rechts auf Leben, und der Unversehrtheit jeder menschlichen Person vom Zeitpunkt der Empfängnis an und zwar in jenen Zuständigkeitsbereichen der EU, für die ein solcher Rechtsschutz von Bedeutung sein könnte. Die Würde des menschlichen Embryos muss geachtet, und seine Unversehrtheit sichergestellt werden. Dies geht aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Brüstle hervor (C-34/10 vom 18. Oktober 2011), in der der Embryo als Mensch anerkannt wird. Die EU wurde daher aufgefordert, die Finanzierung aller Aktivitäten insbesondere in den Bereichen Forschung, Entwicklungspolitik und öffentliche Gesundheit zu unterbinden, wenn sie die Zerstörung menschlicher Embryonen voraussetzen. Diese Forderung war eine logische Schlussfolgerung des Brüstle-Urteils, um die Kohärenz der EU-Politik in allen Bereichen, in denen das Leben des menschlichen Embryos auf dem Spiel steht, sicherzustellen. Innerhalb eines Jahres wurden EU-weit 1.721.626 Unterstützer-Unterschriften für diese Forderung gesammelt. Deutschland liefert mit 137.874 Unterstützer-Unterschriften das viertbeste Ergebnis (nach Italien, Polen und Spanien).
Obwohl die EU-Kommission unter dem Christdemokraten Manuel Barroso die Europäische Bürgerinitiative „One Of Us“ autorisierte, knickte sie nach dem unerwarteten Erfolg unter dem Druck der Abtreibungsbefürworter ein. Die Christdemokraten erklärten sich kurzerhand für nicht mehr zuständig, die durch „One Of Us“ eingeforderten Richtlinienentwürfe vorzulegen. Der Vorgang liegt jetzt beim EuGH in Luxembourg. Dass die EU-Kommission erst eine Bürgerinitiative auf der Grundlage eines EuGH-Urteils autorisiert, sich jedoch bereits nach 12 Monaten für nicht mehr zuständig erklärt, hat das Vertrauen der Menschen in die EU im Allgemeinen und in das Element der „Europäischen Bürgerinitiative“ im Besonderen sicher nicht gestärkt.
Der Erfolg von „One Of Us“ blockiert allerdings nachhaltig die politischen Strategien der Abtreibungsbefürworter. Außerdem ist Abtreibung und „sexuelle und reproduktive Gesundheit“, welche auch Abtreibung beinhaltet, von Brüssel und den 28 Mitgliedsstaaten klar als nationalstaatliche Aufgabe definiert. Von europäischer Ebene sind mithin keine Hebelwirkungen zu erwarten, auch wenn die EU mit großen Summen Organisationen finanziert, die Abtreibung als Mittel zur Geburtenkontrolle nicht ausschließen oder gar fördern. Auch nutzen manche Abgeordnete die Ressourcen des EU-Parlaments, wie beispielsweise Initiativberichte mit politischem Charakter oder Studien der „Generaldirektion Wissenschaftlicher Dienst“, um einen latenten Druck aufrechtzuerhalten. Aber all das ist rechtlich nicht bindend. Deswegen soll nun das Grundrecht auf Gewissensfreiheit durchlöchert werden. „Wir respektieren das Grundrecht auf Gewissensfreiheit, aber nicht für jeden“, so könnte man das Motto der Abtreibungsbefürworter, Euthanasie-Förderer und die LGBT-Gender-Gemeinschaft zusammenfassen. Gemeinsames Ziel ist: Standesbeamte sollen sich nicht auf ihr Gewissen berufen dürfen, sondern alle gleichgeschlechtlichen Paare „trauen“ müssen; medizinisches Personal und Apotheker sollen ihr Gewissen gegen weiße Kittel austauschen, um widerspruchslos zu Euthanasie und Abtreibung verpflichtet werden zu können. In diesem Sinn wurde auch die Forderung aufgestellt, dass EU-weit 15-jährige Mädchen von jedem Schularzt eine Abtreibung ohne elterliches Einverständnis verlangen dürfen. Eine ähnliche Problemlage stellt sich auch für die Betreiber kleiner Familienhotels dar. Sie sollen dazu verpflichtet werden, gleichgeschlechtlichen Paaren Zimmer zu vermieten, auch wenn sie nicht darauf ausgerichtet oder damit einverstanden sind. Hier soll Gewissensfreiheit und das Recht auf unternehmerische Freiheit zugunsten der Antidiskriminierungsregeln ausgehebelt werden. Das ist übrigens auch eine ständige Debatte im Innenministerrat der EU bezüglich der neuen EU-Antidiskriminierungsrichtlinie. Diese EU-Richtlinie soll ohne Einschränkung zugunsten des Grundrechts auf Gewissensfreiheit gelten.
Das Problem für „All Of Us“ besteht einerseits darin, dass die nationalstaatlichen Regelungen der 28 Mitgliedsstaaten eng mit deren rechtlichen und kulturellem Gut verbunden sind. Eine Standardlösung „one size fits all“ gibt es in diesem Falle also nicht. Außerdem hat die parlamentarische Versammlung des Europarats in Strasbourg bereits zwei klare Zeichen zugunsten des Anliegens von „One Of Us“ gesendet. Am 7. Oktober 2010 stimmte sie über den Entschließungsantrag der britischen Sozialistin Christine McCafferty zur Gewissensfreiheit ab („Women’s access to lawful medical care: the problem of unregulated use of conscientious objection“). Gegenstand war die Frage, ob medizinisches Personal Abtreibung aus Gewissensgründen verweigern kann und ob medizinische Einrichtungen die Ausübung dieses Rechts nicht einschränken könnten. Nach monatelangem Hin und Her, an dem der Familienbund der Katholiken in Europa (FAFCE) maßgeblich beteiligt war, urteilten die Parlamentarier: „Kein Arzt oder Krankenhäuser, die eine Abtreibung oder Sterbehilfe ablehnen, sollen dafür zur Verantwortung gezogen werden.“ Und am 20. September 2016 wies der Ausschuss für Soziales, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auch den zweiten Bericht über Leihmutterschaft des transsexuellen belgischen Senators Petra de Sutter ab; stattdessen wurde vorgeschlagen, dass das Minister-Komitee des Europarats „Europäische Richtlinien zur Wahrung von Kinderrechten in Bezug auf Leihmutterschaftsvereinbarungen“ erarbeitet. Auch hier war der Einsatz des Familienbunds der Katholiken in Europa erfolgreich, immerhin verfügt die FAFCE seit vielen Jahren über ein beratendes Statut beim Europarat. Das Thema ist zwar deswegen noch nicht vom Tisch. Aber der ursprüngliche Entschließungsantrag von Petra de Sutter, der sich ausdrücklich für die Freigabe grenzüberschreitender Leihmutterschaft aussprach, wurde nun zweimal abgelehnt und ist damit sine die vertagt.
Das sind keine guten Zeichen für diejenigen, die unter dem Titel „All Of Us“ den Erfolg der Europäischen Bürgerinitiative „One Of Us“ hintertreiben wollen. Ihre juristischen Argumente reichen nicht weit. Aber es ist ein politischer Kampf, er betrifft letztlich alle und deswegen lohnt es sich, auch weiterhin die Vorgänge in Brüssel und Strasbourg genauer zu beobachten. Das gilt auch für die laufende Bürgerinitiative „Mum Dad and Kids“. Schließlich geht es hier um eine für Europa allgemeingültige Definition von Ehe und Familie und um die Mutter als Grundrechte, die Gewissensfreiheit.