Brief aus Brüssel, 2015 / August, 01.09.2015
Für die Flüchtlingsdebatte in Europa wird es vorerst keine schnelle europäische Lösung geben. Die Innenminister treten am 14. September auf Antrag von Deutschland, Frankreich und Großbritannien unter dem Vorsitz der Luxemburger Ratspräsidentschaft zusammen. Im Mittelpunkt der Gespräche dürften dann die Fragen des sicheren Herkunftslands, der Aufteilung der Flüchtlinge und ihre Rückführung stehen. Migrationspolitik hat bei manchen den Ruf, lediglich eine Frage der nationalen Sicherheit zu sein. Doch allen Beteiligten in Brüssel ist klar, dass es sich bei der Aufnahme der Flüchtlinge um ein epochales Gesellschaftsexperiment handelt. Der überwiegende Teil der Flüchtlinge dürfte nicht in die Heimat zurückkehren, sondern in den Mitgliedsstaaten bleiben. Dadurch wird sich die Bevölkerungsstruktur der Mitgliedsstaaten verändern, mit gravierenden Auswirkungen. Das ist allen Regierungen bewusst, auch und gerade jenen, die jetzt über nationale Einwanderungs- oder Asylgesetze debattieren.
In Brüssel versteht kaum jemand die 28 verschiedenen nationalen Asylrechtsvorschriften versteht, die sich aus den EU-Verordnungen und eigenen nationalen Traditionen zusammensetzen. Das EU-Recht kam erst in vergleichsweise jüngerer Zeit als zusätzliche Ebene zwischen den UNO-Konventionen und ihrer Umsetzung durch die Unterzeichnerstaaten hinzu, um die Umsetzungsbemühungen der internationalen Konventionen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu harmonisieren. Mehrere europäische Rechtsakte regeln die Harmonisierung der Asylverfahren, zum Beispiel die „Aufnahme-Richtlinie“ 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, die „Verfahren-Richtlinie“ 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26. Juni 2013, oder die „Anerkennungsrichtlinie“ 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit internationalem Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes.
Die „Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist („Dublin-3-Verordnung“) wurde zudem auf alle Personen erweitert, die „internationalen Schutz suchen“. Die Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene führte zur Erweiterung der Rechtsansprüche für Migranten. Das geht jedoch am Kern der Genfer Flüchtlingskonvention vorbei. Deren Anliegen ist nämlich der Schutz vor Zurückweisung ins Verfolgerland, nicht jedoch der individuelle Anspruch auf Asylgewährung, Einreise oder ein Bleiberecht. Recht auf Asyl haben diejenigen, denen in ihrem Herkunftsland die Menschenrechte versagt werden und denen Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen droht. Dazu gehört ausdrücklich nicht die Suche nach einem besseren Leben.
Gemäß der Dublin-3-Verordnung ist derjenige EU-Mitgliedstaat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, in dem die Flüchtlinge zuerst ankommen. Deswegen sind die Mittelmeer-Anrainerstaaten (Malta, Italien, Griechenland Spanien) besonders betroffen und überfordert. Aber auch Ungarn zahlt aufgrund seiner geographischen Nähe zu den Staaten des westlichen Balkans einen hohen Preis bei der Aufnahme von 45.000 Flüchtlingen in den vergangenen zwei Monaten. Es zeigt sich, dass die von der EU geschaffenen Prozesse nicht mehr funktionieren. Obwohl mit Montenegro und Serbien konkrete Beitrittsverhandlungen laufen, sind beide Staaten dennoch nicht als „sicherer Drittstaat“ anerkannt – sie brauchen Flüchtlinge nicht aufzunehmen, die stattdessen nach Ungarn gehen und von dort aus weiter in andere Mitgliedsstaaten. Auch Bosnien und Herzegowina und das Kosovo sind potenzielle Kandidatenländer, jedoch nicht als „sicherer Drittstaat“ anerkannt. Die Westbalkanstaaten erhalten dennoch massive Finanzhilfen aus dem EU-Budget im Rahmen der Beitrittsverhandlungen. Deswegen müsste Brüssel eigentlich beschließen, dass alle Mitgliedskandidaten automatisch auch zu sicheren Drittstaaten erklärt werden, und diesen Beschluss dann auch durchsetzen, notfalls durch die Aussetzung der Beitrittsverhandlungen.
Die dadurch eingesparten Finanzmittel könnten für die Einrichtung des Botschaftsasyls nach Schweizer Vorbild genutzt werden. Botschaftsasyl bedeutet, dass Asylanträge nur noch in den Botschaften der Mitgliedsstaaten gestellt und im Antragsland beschieden werden. Schließlich kann das Botschaftspersonal vor Ort wesentlich besser die Sachlage beurteilen, als zum Beispiel das Sozialamt in einer deutschen Stadt. Die Forderung nach Botschaftsasyl war bereits Thema in der Anhörung des Kandidaten für den Posten des EU-Kommissars für Migration, und eine deutsche Europa-Abgeordnete bringt dieses Thema immer wieder mal zur Sprache. Vielleicht gelingt es ja, dass die Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten am 14. September auch die konkrete Möglichkeit des Botschaftsasyls in Erwägung ziehen. Und viel wäre gewonnen, wenn man sich wenigstens darauf einigte, ein einheitliches Regelwerk anzustreben.