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Brief aus Brüssel

Grenzenlose Solidarität oder Abzocke?

By 2. August 2020Februar 28th, 2022No Comments
Brief aus Brüssel, 2020 / August, 02.08.2020

Corona-Monopoly mit gezinkten Karten. So heißt das neue Brüsseler Gesellschaftsspiel der Staats- und Regierungschefs. Vier Tage und vier Nächte haben die im Europäischen Rat vereinigten Lenker der 27 Mitgliedsstaaten um eine gemeinsame Position für die Haushaltsverhandlungen des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens (2021-2027) gerungen. Dabei ging es nur darum, dass eine an den Haushaltsverhandlungen beteiligte Institution ihre Position festlegt. Sicher, es ist die wichtigste Institution im EU-Gefüge. Der Europäische Rat vereint die Mitgliedstaaten, die das Geld zur Verfügung stellen, das von der EU-Kommission wieder umverteilt wird. Aber der Haushaltsplan der EU wird von drei Institutionen verhandelt. Das Parlament muss auch zustimmen.

Damit der Trialog beginnen kann, muss jede an diesen Verhandlungen beteiligte Institution ihre eigene Position haben. Kommission und Parlament haben hier die einfache Partitur zu spielen, weil sie ja nur Forderungen stellen und die Umverteilung der Steuergelder der anderen planen. Sie erwirtschaften selbst nichts, sondern geben nur aus. Die “anderen” hingegen, das sind die Staats- und Regierungschefs, welche ihre nationalen Steuergelder an die europäischen Kassen überweisen und das vor ihren Steuerzahlern verantworten müssen. Deswegen wird Brüssel oft als ein riesiger Geldautomat bezeichnet, der aus den nationalen Haushalten alimentiert wird und nationales Steuergeld oft ziemlich ungleichmäßig umverteilt. Deutschland etwa zahlt 10,7 Milliarden Euro mehr als es erhält.

Die wirtschaftlich weitgehend zahlungsunfähigen und politisch zahlungsunwilligen Südstaaten Frankreich, Italien und Spanien hielten auch diesmal die Hand auf. Die Niederlande, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland hingegen wollten als “Sparsame Fünf” die EU auf den Weg finanzpolitischer Realpolitik führen. Gewiss ist die Rolle der Bundesregierung in dieser Gemengelage nicht einfach. Deutschland ist derzeit mit der Verhandlungsleitung im Rahmen der Ratspräsidentschaft betraut. Die Berliner Koalition muss in Brüssel einerseits eigene nationale Interessen vertreten, andererseits in Brüssel einen Kompromiss zusammenschustern.

Statt nach dem Austritt eines großen Mitgliedstaats den EU-Haushaltsplan anzupassen und zu sparen, plant die EU-Kommission, noch mehr Steuergelder aus den Mitgliedsstaaten abzupumpen und darüber hinaus sogar zusätzliche eigene unmittelbare EU-Steuern einzuführen. Diese EU-Steuern sollen zukünftig von Brüssel aus direkt in den Mitgliedstaaten erhoben und von Brüssel aus umverteilt werden. Es handelt sich also um eine Steuer, die das Leben der Bürger verteuert – trotz Corona. Mehr noch: Corona liefert für diesen Plan der Umverteilung zu Lasten der Steuerzahler noch den Vorwand. Denn das sogenannte “Wiederaufbauprogramm” soll sich nicht nur auf die aktuelle durch Corona bedingte Situation beziehen, sondern auch auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung seit den vergangenen fünf Jahren. Somit wird deutlich, dass das auch “Generation Europa” genannte Verschuldungsprogramm eine verdeckte innereuropäische Entwicklungshilfe für potentielle Pleitestaaten ist. Diejenigen Mitgliedstaaten, die sich schon seit fünf Jahren vor echten Reformen drücken und lieber auf die Reichtümer der anderen schielen, gefährden mit dieser Haltung das finanzielle und wirtschaftliche Gleichgewicht des Euroraums. Ausgerechnet sie sollen jetzt am meisten von einem “Wiederaufbauprogramm” profitieren. Das betrifft vor allem Frankreich, dessen Staatspräsident Macron seit seinem Amtsantritt nicht wirklich reüssiert und der deswegen bei den Kommunalwahlen im Juni deutlich abgestraft wurde. Auch Italien reibt sich die Hände und feiert den sozialdemokratischen Regierungschef Conte als Held, weil er wieder mal das Geld der anderen ohne klar formulierte Bedingungen in Italien verteilen kann.

Argumente des Neids oder Geizes gegenüber den Corona-Opfern? Zum einen sind die Verantwortlichkeiten beim Krisenmanagement nicht geklärt, was bei einer Opferdefinition schon sinnvoll wäre. Zum anderen ist nicht klar, wie groß die Opfer wirklich sind. Es geht nicht darum, Solidarität zu verweigern. Aber Solidarität sollte irgendwo auch mit Gerechtigkeit zu tun haben. Dafür wäre ein Blick auf das Pro-Kopf-Vermögen in den Empfängerstaaten nützlich. Die Planungen des Wiederaufbauprogramms aber nehmen darauf keinerlei Bezug. Sollte das nicht auch Teil der Spielregeln von Corona-Monopoly sein? Schließlich zählt das materielle und finanzielle Guthaben der volljährigen Personen eines Mitgliedstaats, wie beispielsweise der individuelle Immobilienbesitz, Börsenanteile oder Bankguthaben, ebenfalls zum nationalen Reichtum. Die Europäische Zentralbank in Frankfurt hat dazu erst kürzlich ihren dritten Reichtumsbericht der Eurozonen-Staaten vorgelegt. So etwas bleibt den Staats- und Regierungschefs natürlich nicht verborgen. Doch wie die metallenen Straußenvögel im Park vor dem EU-Parlament ihre Köpfe in den Brüsseler Sand stecken, so scheuen sich alle an den Haushaltsverhandlungen beteiligten Parteien, auch diese Lebenswirklichkeit zu berücksichtigen. Angesichts der Zahlen der EZB für die Eurozone fallen die nationalen Einsätze für das Corona-Monopoly auf einmal ganz anders aus. Die Erhebungen der EZB in der Eurozone belegen nämlich, dass der durchschnittliche Haushalt Italiens über ein Nettovermögen in Höhe von 132.000 Euro verfügt. In Spanien sind es 119.000 Euro und in Frankreich 118.000 Euro. Im Vergleich dazu verfügt der deutsche Durchschnittshaushalt nur über ein Nettovermögen von 71.000 Euro. Das liegt noch immer unter dem Eurozonen-Durchschnitt von 99.000 Euro und noch deutlicher unter dem, was an Privatreichtum in den Empfängerstaaten Italien, Spanien und Frankreich jetzt schon zur Verfügung steht, aber unangetastet bleibt. Dennoch sollen deutsche Steuerzahler für die reicheren Haushalte in Italien, Spanien und Frankreich aufkommen. Das sind unangenehme Tatsachen. Sie erklären, warum sich der Rat in seinen 69 Seiten langen Schlussfolgerungen nach den Marathonverhandlungen nur schwer auf schwammige Reform-Forderungen festlegen konnte.

Notwendige Reformen in Italien, Spanien und Frankreich betreffen unweigerlich die Eigenverantwortung der Haushalte dieser Empfängerstaaten. Sie umzusetzen ist nationalstaatliche Aufgabe im Sinne des Subsidiaritätsprinzips. Solidarität ist nach dem Subsidiaritätsprinzip erstmal eine nationale Aufgabe. Die reichen Haushalte in den Empfängerstaaten Italien, Spanien und Frankreich heranzuziehen gebietet die Gerechtigkeit, es nicht zu tun gleicht grenzenloser Solidarität ohne Recht, manche würden sagen: Das ist Abzocke. Angesichts der Statistiken der Europäischen Zentralbank kann man nur hoffen, dass die im Bundestag oder in den Parlamenten sparsamer Staaten vertretenen Parteien sich die Position des Rates für die Haushaltsverhandlungen noch einmal ansehen und deutliche Nachbesserungen zugunsten ihrer Steuerzahler einfordern. Schließlich sieht das Billionen-Monopoly eine gemeinsame Verschuldung vor, was übrigens nach dem EU-Vertrag von Lissabon verboten ist. Die Staats- und Regierungschefs haben in diesem Vertrag festgelegt, dass die EU keine Schuldenunion sein darf, weder im Geiste noch in den Fakten. Auch deswegen ist noch lange nicht klar, ob diese Vorschläge so ganz ohne den Widerstand der nationalen Parlamente durchgewunken werden.

Und das EU-Parlament? Ab dem 24. August wollen sich die Fachausschüsse des EU-Parlaments mit der Verhandlungsposition des Rates beschäftigen. Viel Einsicht ist nicht zu erwarten, weil das EU-Parlament immer auf höhere Ausgaben pocht. Vielleicht bedarf es dazu einer europaweiten Bürgerinitiative, um die Regierungen in den Hauptstädten und die EU-Institutionen in Brüssel davon zu überzeugen, dass die EU sich nicht in einen billionenschweren permanenten Rechtsbruch verstricken darf, und dass « Generation Europa » nicht die nächsten Schulden-Generation sein will.

Ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer – mit Abstand, auch mal von der Politik. Denn der Herbst wird stürmisch.

 

Ihr

Junius

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.