Brief aus Brüssel, 2017 / August, 31.08.2017
Superwahljahr 2017. Der Bundestagswahlkampf in Deutschland und die vorgezogene Nationalratswahl in Österreich werfen ihre Schatten auch über Brüssel. Hier werden die Wahlen anders wahrgenommen als in den Nationalstaaten. In der politischen Wahrnehmung der nationalen Parlamentswahlen im Königreich der Niederlande und in Frankreich zum Beispiel lagen Politiker und Kommentatoren in Brüssel ziemlich weit neben der Wirklichkeit. Wie wird das in Deutschland am 24. September und bei den Nationalratswahlen in Österreich am 15. Oktober sein?
In den Niederlanden wurde am 15. März 2017 gewählt. Der rechtsliberale Mark Rutte wurde von allen politisch Verantwortlichen und den Journalisten europaweit euphorisch bejubelt, weil er gegen Geert Wilders und seine „Partei der Freiheit“ gewann. Das ist nicht falsch. Der erste und der zweite Platz waren klar vergeben. In relativen Zahlen bekam Rutte 21,2 % und Wilders erhielt 13% aller Wählerstimmen. Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Der Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren zeigt: Mark Rutte verlor fünf Prozentpunkte und sank von 26,5% (41 Sitze) auf 21,2% (33 Sitze). Geert Wilders indessen steigerte sein Ergebnis um drei Prozent von 10% (5 Sitze) auf 13% (20 Sitze) und ist nun zweitstärkste politische Kraft in den Niederlanden. Seither dauert die Regierungsbildung an. Den Rekord bei der Regierungsbildung hält übrigens Belgien mit 541 Tagen. In Frankreich nun wurde im ersten Halbjahr 2017 gleich viermal gewählt. Zuerst der Staatspräsident in zwei Wahlgängen, anschließend die Nationalversammlung in zwei Wahlgängen. Das Duell um den Einzug in den Elysee-Palast fand zwischen Marine Le Pen (Fron National) und Emmanuel Macron (Vorwärts) statt. Es war ein Wahlkampf der Intrigen. Die Sozialdemokraten, aber auch die Christdemokraten verfehlten den zweiten Wahlgang. Doch auch hier wurde das Ergebnis der Wahlen durch Politiker und Kommentatoren in ganz Europa nur als Momentaufnahme wahrgenommen. Denn den meisten Zugewinn bei den Präsidentschaftswahlen erhielt Marine Le Pen, die ihr persönliches Ergebnis bei der Direktwahl des Staatspräsidenten seit 2012 von Platz drei (17,9 %) auf Platz zwei (33,9 %) fast verdoppeln konnte. Gleiches Ergebnis bei den Parlamentswahlen. Hier stieg die Nationale Front von 3,66 % (2012, 2 Sitze) auf 8,75 %, und vervierfachte ihre Sitze von 2 auf 8. In Brüssel ist man daher gespannt, mit welchem Ergebnis die AfD in Deutschland und die Freiheitlichen in Österreich abschneiden werden. Spannend dürfte auch werden, welche politischen Interpretationen daraus zwischen Rondpoint Schuman und Place de Luxembourg gezogen werden wird.
Wird man zum Beispiel aus der Bundestagswahl Schlüsse auf die Bedeutung des Europäischen Parlaments ziehen? Daran denkt niemand. Aber mitten in der laufenden Legislaturperiode des EU-Parlaments kandidieren in Deutschland Martin Schulz (SPD), Michael Theurer und Alexander Graf Lambsdorff (beide FDP) sowie die stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD Beatrix von Storch für einen Sitz im Bundestag. Für den österreichischen Nationalrat kandidiert die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Ulrike Lunacek von den Grünen. Sie alle behalten erst einmal ihr Europa-Mandat bis zur konstitutierenden Sitzung der jeweiligen Parlamente. Der frühere Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz kündigte bereits an, auch im Falle einer Niederlage als Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht weiter im EU-Parlament zu arbeiten, sondern in jedem Falle das EU-Parlament zu verlassen und in den Bundestag zu wechseln. Auch zwei der Vizepräsidenten des EU-Parlaments, Graf Lambsdorff und Frau Lunacek, haben mehr Interesse an der nationalen Politik als an einer weiteren Arbeit in Brüssel. Auch wenn eine objektive Bewertung schwerfällt (jeder Politiker hat eigene Beweggründe für die Ausübung seines Mandats) kann man feststellen, dass die EU und Brüssel im Vergleich zu einem Mandat im Mitgliedstaat weiterhin nur zweite Wahl bleiben. Sobald ein Sitz im nationalen Parlament, in einer Landesregierung oder eine Position als Landrat möglich ist, wird „Brüssel“ fallengelassen. Das war auch der Fall des Europa-Abgeordneten Herbert Reul (CDU), der ins Innenministerium nach Düsseldorf umzog, oder von Matthias Groote (SPD), der sein Mandat im EU-Parlament und seine Position als Vorsitzender des Umweltausschuss gegen einen Landratsposten eintauschte. Ehrlicherweise muss man sagen, dass Beatrix von Storch (AfD) „Brüssel“ von Anfang an immer nur als zweite Wahl angesehen hat. Aber eben zweite Wahl. Für die anderen Mitglieder des EU-Parlaments, die jetzt unbedingt in den Bundestag streben, war das EU-Parlament dagegen das „Zentrum der Macht“ und „die einzig demokratisch legitimierte Institution der EU“. Wenn die Berufs-Europäer (was in Brüssel keineswegs ein Schimpfwort ist) so sehr von der EU und ihrem Parlament überzeugt sind, und dem Parlament sogar als Präsident vorstanden oder noch als Vizepräsidenten im Amte sind, warum wollen sie dann eigentlich um jeden Preis hier weg? Damit wird die Wichtigkeit des EU-Parlaments gerade von denjenigen Infrage gestellt, die sie immer wieder in Sonntagsreden betonen.
Das wirft ein Zwielicht auf Brüssel. Der politische Widerspruch – um mal nicht von der üblichen Heuchelei zu reden – liegt auf der Hand: Dasselbe politisch-mediale Establishment, das Brüssel als Nonplusultra der Politik beschreibt und nationale Bestrebungen sowie patriotische Töne verwirft, misst de facto den nationalen Parlamenten mehr Bedeutung bei als dem Europa-Parlament. Hat das vielleicht mit der alten Erkenntnis zu tun, daß auch im „Staatenverbund Europas“ (Udo di Fabio) die letzte Souveränität bei den einzelnen Völkern liegt und es eben noch kein europäisches Volk gibt? Wenn dem so ist, und die aus Brüssel und Strasbourg wegstrebenden Politiker bestätigen es ja mit ihrem Bestreben, dann sollte man das auch sagen und den Wählern nicht vorgaukeln, die Zeit der Nationalstaaten sei lange und endgültig vorbei.
Eine gute Wahl wünscht
Ihr
Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.