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Brief aus Brüssel

Die EU-Wahlen werfen ihre Schatten voraus – der Wahlkampf beginnt

By 13. Juni 2023No Comments
Die Zukunft Europas

Brief aus Brüssel, Juni 2023

Heute in einem Jahr finden die Wahlen zum EU-Parlament statt. In den 27 Mitgliedsstaaten werden zwischen Donnerstag, dem 6. Juni, und Sonntag, dem 9. Juni 2024, gemäß den dort geltenden nationalen Wahlgesetzen die 705 Mitglieder der Straßburger Vielvölkerversammlung für fünf Jahre gewählt.

Sie werden bemerken, dass der Wahltermin Anfang Juni ungewöhnlich spät ist. Üblicherweise wird nämlich Anfang Mai gewählt. Der Juni-Termin ist das letztmögliche Pflichtdatum, das die EU-Wahlverordnung vorsieht, um das EU-Parlament zu erneuern. Glücklicherweise sieht die EU-Wahlverordnung überhaupt ein letztmögliches Pflichtdatum vor, denn die Regierungen der Mitgliedsstaaten konnten sich monatelang nicht gütlich auf einen gemeinsamen Kompromiss-Termin einigen. Das ist kein Scherz. Die EU will den Ukrainekrieg beenden, den Hunger in der Welt beseitigen, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übernehmen, Asien wirtschaftlich die Stirn bieten… kann sich aber nicht auf einen gemeinsamen Termin für die Wahlen zum EU-Parlament, dessen Wichtigkeit die EU gleichwohl immer betont, einigen.

Für die Wahlen orchestriert das EU-Parlament, als Institution, seine eigene Wahlkampagne mit dezidiert politischen Aussagen. Selbstkritik gehört nicht dazu. Stattdessen richtet die Generaldirektion der Kommunikation wieder ein „Wahrheitsreferat“ ein, um politisch unbeliebte wenngleich belegbare Kritik am politischen System der EU über alle Social-Media-Kanäle zurechtzuinterpretieren. Auch das ist eine politische Absurdität des politischen Systems in Brüssel: kein nationales Parlament eines Mitgliedstaats käme auf die Idee, selbst – als Institution – mit inhaltlich politisch festgelegten Slogans für die Wahlen zu werben.

Die vom EU-Parlament in Auftrag gegebenen Umfragen lassen keinen großen Enthusiasmus in der Bevölkerung für EU-Angelegenheiten erwarten. Wenngleich 71% der Befragten verstehen, dass die EU einen Einfluss auf ihren Lebensalltag hat, interessieren sich nur knapp 56 % für die Wahlen. Nur knapp die Hälfte der Bevölkerung (54 %) ist mit der Funktionsweise der EU zufrieden. Gewiss sind das schon bessere Bewertungen als für die Ampel-Koalition in Berlin oder den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Paris. Der Brief aus Brüssel möchte gerne seinen Beitrag dazu leisten, dass das Interesse an den EU-Wahlen steigt.

Erstaunlicherweise erklären sich 79 % der Deutschen beglückt über „freie und gerechte Wahlen“ in der EU, denn gerecht sind die Wahlen zum EU-Parlament in gar keinem Fall. Ein in Deutschland gewähltes Mitglied des EU-Parlaments vertritt 864.783 Einwohner. Ein in Malta gewählter Abgeordnete hingegen vertritt nur 82.260 Einwohner Maltas – also zehnmal weniger. Bei Abstimmungen im Ausschuss und im Plenum sind die Stimmen jedoch nicht gewichtet. Der deutsche Europa-Abgeordnete vertritt mit seiner einen Stimme zwar zehnmal mehr Menschen als der maltesische Kollege, aber seine Stimme wiegt nicht entsprechend zehnmal schwerer. Bei Portugal, Schweden, Ungarn, Österreich, Bulgarien und Dänemark ist das Verhältnis immer 1:2. Deutschland wird also strukturell durch die Wahlen benachteiligt, weil die Stimmend er Mitglieder bei den Abstimmungen nicht entsprechend der Bevölkerung gewichtet sind. Gerecht ist das nicht.

Gleichwohl verliert Deutschland jedes Jahr 25 Milliarden Euro wegen der EU. Das wird euphemistisch „Nettozahler“ genannt. Doch dieses Framing verblasst zugunsten der Forderung nach „europäischer Haushaltsgerechtigkeit“. Einfach erklärt besteht der „deutsche Nettozahlerbeitrag“ aus 25 Milliarden Euro (2021), die zwar in Deutschland erwirtschaftet, dann aber von der Bundesregierung nach Brüssel überwiesen wurden. Von dort aus kommen sie nicht mehr über das EU-Haushaltsumverteilungssystem zurück nach Deutschland. Dadurch verliert Deutschland 25 Milliarden Euro wegen seiner EU-Mitgliedschaft. Wenn sich Bundesfinanzminister Lindner (FDP) derzeit durch Krisensitzungen boxt, um 20 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einzusparen, sollte die Ampel und ihre Bundestagsfraktionen einfach den Mut haben, die 20 Milliarden Euro Bundesmittel einfach nicht mehr nach Brüssel zu überweisen. Sie werden ja offensichtlich in Deutschland gebraucht.

Gewiss hat Deutschland als großer Mitgliedsstaat eine Verantwortung für die EU als Ganzes. Aber erstens spiegelt sich diese Verantwortung nicht in den Personalentscheidungen der EU-Institutionen wieder, und zweitens dürfte die finanzielle Verantwortung mit maximal 5 Milliarden Euro Verlust wohlwollend abgetan sein. Aber 25 Milliarden Euro wegen der EU sind ein Verlustgeschäft für den deutschen Steuerzahler. Im Gegensatz dazu erhält Polen übrigens jährlich 11 Milliarden Euro als Nettoempfänger – also ohne weitere Leistung, als EU-Mitgliedsstaat zu sein. Die Frage der „europäischen Haushaltsgerechtigkeit“ wird bislang von Gunnar Beck MdEP im Wirtschafts- und Finanzausschuss und Joachim Kuhs MdEP im Haushaltsausschuss des EU-Parlaments gestellt, zwei Europaabgeordneten aus Westdeutschland. Freunde machen sie sich damit nicht, vor allem nicht bei den Netto-Empfängern, allen voran Polen, Griechenland, Ungarn und Rumänien. Aber die Frage der europäischen Haushaltsgerechtigkeit und den 25 Milliarden Euro Verlust deutscher Haushaltsmittel wegen der EU-Mitgliedschaft werden im Wahlkampf der nationalen Parteien für das EU-Parlament ganz gewiss eine Rolle spielen.

Zuletzt noch in eigener Sache: Der Brief aus Brüssel wird dieses Wahlkampfjahr begleiten.
Sie lesen uns nun regelmäßig wieder als eMail. Der Freundeskreis des „Briefs aus Brüssel“ war nie wirklich verschwunden. Berufliche Veränderungen der einen und der anderen, verbunden mit Um- und Wegzügen aus und nach Brüssel mit allen Folgen für Kinder und Familie erschwerten lediglich für kurze Zeit die vertiefte Auseinandersetzung mit den großen und kleinen politischen Ereignissen in den Institutionen der Europäischen Union, die sonst, absichtlich oder unabsichtlich, nicht in der Zeitung stehen.

Kommen Sie gesund durch den Sommer!

Ihr
Junius

Die Leser kennen Junius seit vielen Jahren und trotz aller widrigen Umstände des Lebens wird Junius im „Brief aus Brüssel“ auch in diesem Jahr treu und objektiv über die politischen Entwicklungen in der EU in Brüssel berichten.

Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.