Brief aus Brüssel, 2018 / Juli, 07.08.2018
Teil II und Schluss
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht sich zunehmender Kritik gegenüber. Der Ton wird schärfer, die Kritik substantieller und das hat mit den deutlich politisierenden Urteilen zu tun.
Im Prinzip ist es so: Der EuGH kein Menschenrechtsgericht und soll nur die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Europäischen Verträge sichern. Doch er stößt an Grenzen und provoziert, wenn die Richter über die kontroversen „nicht verhandelbaren“ gesellschaftlichen Fragen, bei denen Kompromisse nicht möglich sind, entscheiden, und dabei die gewachsenen kulturellen Besonderheiten der einzelnen Mitgliedsstaaten außer Acht lassen. Die Richter und die Generalanwälte konstruieren ohne längere Begründung neue Rechte, vor allem im Bereich der Nichtdiskriminierung. Sie schaffen vollendete Tatsachen durch stillschweigende Rechtsfortschreibung ohne Grundlagen im geltenden Recht. Mit dieser Taktik erweitert der EuGH beständig seine Zuständigkeiten. Er übernimmt die soziale (Fern-) Steuerung von Werten und Normen für alle Mitgliedsstaaten. Damit machen die Richter heute mehr denn je Politik am ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zwischen Kommission, Rat und Parlament vorbei. Die politisierte Ernennungsprozedur des Personals des EuGH durch die Mitgliedsstaaten ist an dieser Situation nicht ganz unschuldig. Das informelle Leitmotiv des EuGH lautet: im Zweifel gegen die Mitgliedsstaaten und für die europäische Integration, also zugunsten der weiteren Abgabe von Zuständigkeiten aller Mitgliedsstaaten an die EU. Das war einer der Gründe für den Erfolg des Brexit-Referendums.
Der Europäische Gerichtshof emanzipierte sich bemerkenswert schnell und leise von seiner vertraglich festgelegten Rolle der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Die Überschreitung der Zuständigkeiten begann mit der Van-Gend-&-Loos-Entscheidung (5. Februar 1963) und der Costa/Enel-Entscheidung (15. Juli 1964). Darin erklärte der EuGH ohne längere Begründung die Eigenständigkeit und den Vorrang des EG-Rechts und betonierte einen von den Römischen Verträgen nicht vorgesehenen absoluten Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber allen nationalen Rechtsordnungen – sogar dem nationalen Verfassungsrecht. Das aber war in den Gründungsverträgen der damals noch jungen EWG überhaupt nicht vorgesehen und es wäre wohl kaum so vereinbart worden. Nächstes Jahr – im Europawahljahr 2019 -wird die Costa/Enel-Entscheidung fünfundfünfzig Jahre alt: Anlass genug, diese Entscheidung in den vorzeitigen Ruhestand zu verabschieden und die juristischen Verhältnisse in der EU neu zu ordnen. Vielleicht werden neue Mehrheiten im EU-Parlament dafür sorgen, dass diese Revision in Gang kommt.
Ebenso bemerkenswert wie die kompetenzüberschreitende Emanzipation des EuGH von seiner ursprünglichen Aufgabe ist die Abwesenheit von handfestem Protest dagegen aus dem Munde von Richtern und aus den Reihen der im Parlament vertretenen Parteien. Die höchstrichterliche Eigenmächtigkeit des EuGHs wird aus falsch verstandener Demut vor Justiz und EU lieber nicht infrage gestellt. Zwar behält sich das Bundesverfassungsgericht Maßnahmen vor, wenn der EuGH in einer die Bundesrepublik betreffenden Entscheidung seine Zuständigkeiten überschreiten sollte, oder wenn eine EuGH-Entscheidung das Grundgesetz wesentlich verletzen würde. In einem Urteil vom 15. Dezember 2015 verwies das Bundesverfassungsgericht interessanterweise darauf, dass „die weitaus überwiegende Zahl der Verfassungs- und Obergerichte der anderen Mitgliedstaaten für ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereich die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (teile), dass der (Anwendungs-)Vorrang des Unionsrechts nicht unbegrenzt gilt, sondern dass ihm durch das nationale (Verfassungs-)Recht Grenzen gezogen werden“, und zitierte daraufhin für jeden Mitgliedstaat eine ähnliche Position, die vom jeweiligen Verfassungsgericht angenommen wurde. Aber das bleibt Urteilssprech, für den normalen Menschen viel zu verkopft, zu juristisch, zu wohlerzogen formuliert – und daher ohne praktische Konsequenz. Eine Europäische Bürgerinitiative freilich könnte dieses vergessene Urteil zum Ausgangspunkt einer Initiative machen.
Man mag dagegen einwenden, dass auch die höchsten Gerichte der Mitgliedsstaaten an der zunehmenden Verlagerung der Entscheidungsmacht von der politischen auf die juristische Ebene beteiligt sind. Man mag ebenso einwenden, dass nationale Verfassungsrichter auch an der politischen Diskussion über gesellschaftliche Fragen teilnehmen, wie es beispielsweise die jüngste Stellungnahme des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Vosskuhle zur Asylpolitik symbolisiert. Doch was für die Mitgliedsstaaten zutrifft, trifft für die EU eben ausgerechnet nicht zu. Die Europäische Union ist eben kein demokratisch verfasster Staat, sie hat kein Staatsvolk, sie verfügt nicht über eine eigenständig legitimierte Verfassungsstruktur, sie hat keine eigenständige Staatsgewalt. Die Kommission ist nicht die Regierung Europas, auch wenn das Duo Juncker-Selmayr das vortäuscht und die Leitmedien das gerne so widergeben. Das nächste EU-Parlament hat auch keine eigene Haushaltshoheit wie etwa der Bundestag, wie man bei den derzeitigen Parlamentsberatungen zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ab 2021 deutlich nachvollziehen kann: das jetzige EU-Parlament will auf Biegen und Brechen einen Haushalt für die Zeit ab 2021 verabschieden. Geschieht das, wird das am 26. Mai 2019 neu zu wählende Parlament überhaupt keine wesentlichen politischen Entscheidungen über die Finanzen der EU mehr treffen können und der Wähler steht vor vollendeten Tatsachen. Das EU-Parlament kontrolliert weder die Kommission noch den Rat, sondern beglückwünscht sich stattdessen, die parlamentarischen Anfragen der Europa-Abgeordneten an Rat und Kommission durch parlamentsinterne Regelungen massiv zu begrenzen; wer allerdings die inhaltslosen Antworten von Rat und Kommission auf parlamentarische Anfragen nachliest, kann es den EU-Parlamentariern auch nicht verübeln, wenn sie kaum noch Kontrollfragen stellen. Das EU-Parlament kontrolliert die Kommission keineswegs, wie es jüngst in der Selmayr-Affaire wieder einmal deutlich wurde. Es wählt nicht einmal die Kommission, weil sie von den Staats- und Regierungschefs bestimmt und vom EU-Parlament zwar mit viel Protokoll aber doch lediglich abgenickt wird. Darüber hinaus ist die EU unfähig zum Schutze ihrer Außengrenzen. Deswegen hinkt der Vergleich zwischen nationalen höchstrichterlichen Institutionen und dem EuGH. Und weil die EU kein Staat ist, kann der Gerichtshof der EU nicht so tun, als sei er für das Seelenheil der 500 Millionen Menschen des Staatenbundes verantwortlich.
Doch das tut er gerade im Bereich der Antidiskriminierung. Der plakative Ausspruch „je mehr europäischer Grundrechtsschutz, umso besser“ stimmt spätestens seit der Verabschiedung der Charta der Grundrechte der EU im Jahre 2000 nicht mehr. Dass dem EuGH Einhalt geboten werden muss, wird spätestens seit dem Urteil in der Rechtssache C?673/16 vom 5. Juni 2018 verständlich. Die höchsten Richter der EU urteilten, dass die Begriffe „Ehe“ und „Ehegatte“ von nun an sexuell-bzw. geschlechtsneutral ausgelegt und mithin alle gleichgeschlechtlichen Partner einer heterosexuellen Ehe von Mann und Frau gleichgestellt werden müssen. Damit warfen die EU-Richter ein Jahrtausend altes Prinzip des christlichen Kontinents „Europa“ über den Haufen und schafften de facto das Recht der Mitgliedsstaaten ab, über die Definition von Ehe und Familie selbst zu bestimmen.
Das nächste interessante Urteil wartet übrigens schon, dann geht es um das Selbstbestimmungsrecht der katholischen Kirche in Deutschland in Sachen Personalpolitik. In der Rechtssache C-68/17 empfiehlt Generalanwalt Wathelet als Urteil: „Die Anforderung, dass ein katholischer Chefarzt den heiligen und unauflöslichen Charakter der Ehe nach dem Verständnis der katholischen Kirche beachtet, stellt keine echte berufliche Anforderung und erst recht keine wesentliche und gerechtfertigte berufliche Anforderung dar.“ Wenn das durchgeht, ist der besondere Rechtsstatus der Kirchen in Deutschland am Ende. Dann werden wir sehen, ob hier das Bundesverfassungsgericht gegen den EuGH einschreitet.
Ihr
Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.