Brief aus Brüssel, 2020 / Oktober, 03.10.2020
Covid verstärkt die Rivalität zwischen Brüssel und Strasbourg. Strasbourg ist der Sitz des EU-Parlaments, Brüssel hingegen nur ein Veranstaltungsort der Vielvölkerversammlung, selbst wenn die Brüsseler Korrespondenten der Leitmedien immer wieder fälschlicherweise von drei Sitzen sprechen, um den Strassburger Sonderstatus abzuschleifen. Jedenfalls sind beide Städte „rote Zonen“, in denen nach der gängigen Auffassung eine sehr hohe Covid-Ansteckungsgefahr besteht.
Dass ausgerechnet Brüssel zur roten Zone erklärt wurde, erleichtert nicht die Arbeit der deutschen Ratspräsidentschaft. Üblicherweise fliegen die EU-Beamten pausenlos zwischen dem Mitgliedsstaat der Ratspräsidentschaft und der EU-Zentrale hin- und her. Um diese Arbeitsbesuche der Eurokraten nicht noch mehr zu beeinflussen, gelten für ihre Dienstreisen in allen deutschen Bundesländern Ausnahmeregeln für Eurokraten. Das verleitet zu der Annahme, ein EU-Hausausweis schütze vor dem chinesischen Virus.
Covid entwöhnt auch von Strasbourg. Seit März hat das EU-Parlament seinen Sitz im elsässischen Strasbourg nicht mehr besucht. Sieben Plenarsitzungen wurden in Strasbourg bereits abgesagt, auch die zweite Plenarwoche im Oktober steht auf dem Spiel. Macron ist stinksauer, und das zu Recht. Pacta sunt servanda, das gilt auch für Strasbourg. Der vom Konferenztourismus abhängige örtliche Mittelstand beiderseits des Rheins (sowohl im Elsass als auch in Baden-Württemberg) erleidet nicht wiedergutzumachende Einbußen. Doch die unfreiwillige Abstinenz wird in der Brüsseler Blase, wenn nicht schon fast schon heimlich bejubelt so doch mindestens dankbar in Kauf oder schulterzuckend hingenommen. Vor allem der Generalsekretär des EU-Parlaments kann jetzt endlich mal so richtig durchregieren, angespornt von der Amtsärztin der Institution, die auch keine Freundin von Strasbourg ist. Nach einem halben Jahr ohne Strasbourg könnte man versucht sein, der Kraft des Faktischen nachzugeben und anzunehmen, dass diese Europäische Union ihren Parlamentssitz in Strasbourg eigentlich gar nicht mehr bräuchte.
Doch das greift zu kurz. Der institutionelle Covid-Stillstand führt nämlich vielmehr zu der Frage, wieviel „Parlament“ und „Kommission“ dieser Staatenverbund überhaupt noch braucht. Schließlich verwandelte das kleine Virus aus Wuhan die einstmals hyperaktiven Institutionen der Brüsseler Blase über Nacht in ein „Videokonferenz-Zentrum“, die Fernteilnahme wird zur Regel. War zuvor die Kunst des Strippenziehens im Wahlkreis eine Grundvoraussetzung für die Wahl ins EU-Parlament, stehen plötzlich ganz andere Kriterien im Vordergrund: eine hochleistungsfähige Internetverbindung, Technikaffinität und Fremdsprachenkenntnisse. In den jetzt alltäglichen Videokonferenzen können oft nur eine begrenzte Anzahl von Dolmetscherkabinen zugeschaltet werden. Wer also nicht glücklicherweise einer der großen Sprachengruppen angehört oder wer seine politischen Anliegen nicht in einer Fremdsprache verhandeln kann, hat Pech gehabt. Wer im Funkloch lebt, kann nicht am Video-Parlament teilnehmen. Aber wer vermisst dieses Europäische Parlament (außer denjenigen, die daran Geld verdienen?) Die Brüsseler Verwaltung unternimmt außerdem alles Erdenkbare, um einen Parlamentsbetrieb zu ermöglichen, bei dem die in den Mitgliedstaaten gewählten Abgeordneten möglichst wenig in ihren Büros und in ihren Sitzungssälen in Brüssel oder Strasbourg anwesend sind.
Der Grund für die unfreiwillige Abstinenz sind die angeblich nicht beherrschbaren Infektionen. Stimmt das denn? Ein Blick auf die Geographie des Virus in beiden Städten zeigt, dass bei weitem nicht die ganze Stadt bzw. die Stadtviertel der Institutionen Hochrisikogebiete sind. Epizentren des Virus in Strasbourg und in Brüssel sind jeweils diejenigen Stadtteile, deren Bewohner „noch nicht so lange bei uns sind und die hier als Flüchtlinge oder Migranten angekommen sind“, wie es die Bundeskanzlerin gern formuliert. Wer in Brüssel durch Moolenbeek (wo die Terroristen der Anschläge in Paris 2015 und Brüssel 2016 und ihre Sympathisanten lebten), Schaerbeek, Anderlecht oder Saint-Josse und um die kleinen Wolkenkratzer der belgischen Bundesregierung zwischen Nordbahnhof und Rogier-Platz herumschlendert (wenn nicht gerade Ausgangssperre ist), stellt fest, dass sich die neuen Belgier aus Afrika, Marokko und der Türkei ganz einfach nicht an die Regeln halten und den Pflicht-Mundschutz wie Modeschmuck über der Stirn tragen. Gleiches gilt für Strasbourg. Hier sind die Infektionsherde vor allem diejenigen Stadtviertel, in denen regelmäßig Autos abgefackelt werden.
Wer also in den beiden Drehpunkten der EU, Strasbourg und Brüssel, erlebt, wie sich die „neue Bevölkerung“ einfach über so einfache Regeln wie den Mundschutz gegen die Verbreitung des Virus hinwegsetzt, kann sich nur wundern, warum die EU mit dem von Ursula von der Leyen verantworteten neuen „Pakt für Migration und Asyl“ ausgerechnet jetzt vorprescht. Dieser „Pakt“ sorgte bereits für Irritationen. Erstens übernimmt er vorbehaltlos den „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ der Vereinten Nationen, der bereits viel Kritik erntete und über den alle Verantwortlichen immer wieder klarstellten, es handele sich nur um ein unverbindliches Dokument von symbolischem Wert. Nicht ganz zwei Jahre später werden diese unverbindlichen symbolischen Wünsche auf einmal in Brüsseler Rechtsverordnungen umgewandelt. Das schafft kein Vertrauen in die EU. Außerdem wurde vor dieser Veröffentlichung des „Europäischen Migrationspakts“ eine Bürgerumfrage von der EU-Kommission gestartet, mitten in der Sommerpause und nicht weiter besonders hervorgehoben, obwohl die politische Brisanz dieses Thema eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit verdient hätte.
Während der Vorstellung des Migrationspakts durch Frau von der Leyen richteten sich alle Augen nur auf das, was offensichtlich vorlag, nämlich die Mitteilung der Kommission. Was hingegen viel spannender ist, ist das begleitende „Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen SWD (2020) 207 final”. Auf Seite 27 und 28 findet sich die Auswertung der Bürgerbefragung, die vor allem in Deutschland ein großes negatives Echo hervorrief, welches von den Kommissionsbeamten jedoch via Fußnote zur Nebensächlichkeit degradiert wurde. Das Dienststellen-Arbeitspapier sagt, dass die Antworten zum ganz überwiegenden Teil neutral waren, gefolgt von negativen, positiven und gemischten Antworten. Die entsprechende Fußnote liefert indes ein ganz anderes Bild der Bürgerbefragung: Den 749 einen neuen Migrationspakt ablehnenden Antworten stehen nur 42 zustimmende Antworten gegenüber! Und dennoch tut die EU-Kommission so, als wären die Bürger der EU mit einem neuen Migrationspakt einverstanden. Sind sie aber offensichtlich nicht. Bereits heute hat die Bundesregierung im Bundeshaushalt eine „Asylrücklage“ von 48,2 Milliarden Euro aus Steuergeldern angelegt, um die immensen Kosten der Migration zu stemmen. Das beweist das ebenso immense Konfliktpotential, das sich mit dieser von Brüssel aus gesteuerten Migrationspolitik in den Mitgliedstaaten ergeben dürfte, und welches man offenbar glaubt nur mit viel Geld unter dem Deckel, um nicht zu sagen hinter politischen Masken halten zu können.
Einen ansteckungsfreien Herbst wünscht Ihnen
Ihr
Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.