Brief aus Brüssel, 2021 / März, 01.03.2021
“Do as I say and not as I do” ist eine Redewendung, die wir aus dem Vereinigten Königreich gelernt haben, das übergangsweise nicht mehr zur EU gehört. Auf gut Deutsch ist das die Definition von Doppelmoral oder Scheinheiligkeit. Sie gilt bekanntlich als das fünfte Prinzip der Europäischen Union. Natürlich ist Doppelmoral keine Besonderheit des Raumschiffs Brüssel. Corona liefert dafür seit einem Jahr den unfreiwilligen Lackmustest. In Paris war Merkels Liebling Emmanuel Macron zwar mit dem Virus infiziert, doch lud er trotzdem zur Dinnerparty im Elysee-Palast mit 15 Gefolgsleuten ein, um seine Wiederwahl zu organisieren. Abends gab es Meeresfrüchte und Garnelen, am Morgen danach Medikamente für den Staatspräsidenten sowie Quarantäne für alle Gäste, und darüber hinaus viel Bestürzung in der Öffentlichkeit, weil die normale Bevölkerung schon ab 18 Uhr nicht mehr aus dem Hause darf und Begegnungen mit mehr als sechs Personen sowieso verboten sind. In Stockholm rief der sozialdemokratische Regierungsschef Stefan Löfven die Bevölkerung Schwedens eindringlich zur Kontaktbeschränkung auf, um alsbald selbst mit seinen Leibwächtern im (ziemlich geschmacklosen) Stockholmer Einkaufszentrum „Gallerian“ die ausstehenden Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Sein Innen- und Justizminister Morgan Johansson verstieß derweil ebenfalls gegen die von ihm selbst beschlossenen Restriktionen und wurde in seinem Wahlkreis in Südschweden beim Erholungsshopping ertappt. Finanzministerin Magdalena Andersson, Sozialdemokratin, war unterdessen Skifahren und der Chef der Katastrophenschutzbehörde, Dan Eliasson, wurde zu Weihnachten auf dem Wege auf die kanarischen Inseln angetroffen, obwohl seine Behörde zuvor eindringlich von nicht lebensnotwendigen Auslandsreisen abriet. Kein Wunder, dass Schwedens Staatsschef König Carl XVI Gustaf seine Regierung in ungewöhnlich unköniglichen Worten abkanzelte: die Politiker haben versagt, zu viele Menschen starben, Schwedens Regierung hätte besser sein müssen.
In Brüssel – diesmal reden wir von der Hauptstadt eines kleinen Königreichs, dessen Landstraßen ebenso holprig sind wie die seiner verlorenen afrikanischen Kolonie – ist die Doppelmoral nuancierter, weswegen oftmals selbst unsere einheimischen Kollegen nicht mehr zwischen belgischen Humor oder einfach nur Stümperhaftigkeit unterscheiden können. Die Verlängerung der Gaststättenschliessung wurde ausgerechnet vor der noch immer geöffneten Parlaments-Cafeteria verkündet. Wenn Politikerinnen und Politiker die staatlich verordnete Schließung der belgischen Friseursalons irgendwie zu begründen versuchen, dann sind sie erstaunlich frisch frisiert. Der flämische Sozialdemokrat Pascal Smet, Staatssekretär für Außenhandel der Region Brüssel-Hauptstadt, lud gar zur Feier der Verleihung des Titels „immaterieller Wert des Weltkulturerbes“ an den belgischen Spekulatius ein, ohne jede der von ihm mitbeschlossenen Sicherheitsmaßnahmen zu respektieren. Ein Hofberichterstatter des gebührenfinanzierten Staatsfunks RTBF fühlte sich angesichts der maskenfreien und überlaufenen Veranstaltung derart unwohl, dass dessen Protest gegen die ministeriellen Regelverstöße die Lust auf den belgischen Spekulatius vorerst verdarb, dafür aber die Einschaltquoten bei Youtube und Twitter erhöhte. Der Chef der frankophonen Grünen von Belgien, Jean-Marc Nollet, konzedierte kürzlich im Morgeninterview des Staatssenders RTBF, sich selbst nicht an die von seiner eigenen Regierungspartei beschlossenen Restriktionen zu halten: zuerst habe er ja die Kontaktbeschränkungen einhalten wollen, doch nach drei Tagen sei dies alles derart betrüblich geworden, so dass er wieder und seitdem regelmäßig Freunde zu Hause empfängt. Die Grünen regieren in Belgien und beschließen harte Corona-Einschränkungen, die von ihren eigenen Parteichefs nicht eingehalten werden, und die das darüber hinaus zur besten Sendezeit als normal darstellen.
Aber auch im EU-Parlament gehören Scheinheiligkeit und Doppelmoral zum guten Ton. Ohne sie wäre das parlamentarische Schauspiel ja auch gar nicht möglich. Manche Abgeordnete beherrschen die Kunst der parlamentarischen Doppelmoral erstaunlich gut. Dazu zählt die Aachener CDU-Europaabgeordnete Sabine Verheyen. Als Vorsitzende des Kulturausschusses kämpfte sie einerseits dafür, dass der Posten ihrer vierten Stellvertreterin an eine Orban-Vertraute der Fidesz-Partei vergeben wird, weil es die internen Postenverteilungsregeln nun mal so vorsehen. Dabei hatten die anderen Fraktionen der Orban-Truppe eigentlich keinen Gefallen tun wollten. Doch Frau Verheyen berief sich ausdrücklich nicht etwa auf politische Meinungsverschiedenheiten, sondern forderte von allen Fraktionen den Respekt der bestehenden Verteilungsregeln im EU-Parlament. Dann ging sie in die konstituierende Sitzung der interparlamentarischen Delegation für die Beziehungen zu Südafrika. Die ist ebenso belanglos wie der Kulturausschuss. Deren Vorsitzender sollte jedoch Prof Dr Jörg Meuthen werden, der als Hochschullehrer regelmäßig Studienaufenthalte in Südafrika organisierte und das Land genauso kennt wie Frau Verheyen den Aufsichtsrat des öffentlich-rechtlichen SWR, dem sie als Parteipolitikerin angehört. Doch im Falle Meuthen galt ihr nicht mehr der Respekt vor dem Postenverteilungsprinzip, sondern auf einmal doch die politische Meinungsverschiedenheit, in diesem Falle gegen die AfD. Nun sind weder der Kulturausschuss noch die Südafrikadelegation die Herzschrittmacher der Europäischen Union, aber die Doppelmoral ihrer Verantwortlichen verheißt nichts Gutes für die Zukunft. Gemütlich ist das alles nicht.
Ein ähnliches Beispiel für die Doppelmoral der EU-Abgeordneten findet sich bei dem Instrument der Europäischen Bürgerinitiative. Als zwischen 2012 und 2014 eine Handvoll europäischer Lebensrechtsinitiativen einfach nur die Einhaltung der Definition der höchsten Rechtsprechung der EU über den Beginn des menschlichen Lebens ab der Befruchtung in allen relevanten Politikgebieten einforderte, schlossen sich 1,7 Millionen, genauer: 1.721.626 Unterstützer der Initiative „Einer von Uns“ an. Sie forderten, dass das Grundsatzurteil C-34/10 des EuGHs „Brüstle gegen Greenpeace“ umgesetzt werde („Der Mensch ist ab der Befruchtung ein Mensch“). Daher solle die EU die Finanzierung aller Aktivitäten (insbesondere in den Bereichen Forschung, Entwicklungspolitik und öffentliche Gesundheit), die die Zerstörung menschlicher Embryonen voraussetzen, unterbinden, um die Kohärenz der Gemeinschaftspolitik in allen Bereichen, in denen das Leben des menschlichen Embryos auf dem Spiel steht, sicherzustellen. Unverzüglich wurden ganz normale Bürger von heute noch aktiven Europa-Abgeordneten und Journalisten beschimpft und verunglimpft, weil sie ein vom EU-Vertrag ausdrücklich vorgesehenes Instrument der Bürgerbeteiligung nutzten und einfach nur forderten, dass eine Rechtsprechung des EuGHs umgesetzt werde. Keine der bislang 76 genehmigten Europäischen Bürgerinitiativen konnte bislang so viele Unterschriften zusammentragen, nicht einmal die Initiativen zum Recht auf Wasser, gegen Tierversuche oder die gegen Glyphosat, obwohl diese Initiativen von den Medien in den Himmel gejubelt wurden. Die zweite von Vertretern der christdemokratischen Parteienfamilie geführte EU-Kommission (Barroso II) versagte dennoch der Initiative „Einer von Uns“ die Umsetzung ihrer Forderungen. Selbst manche Christdemokraten applaudierten der Verweigerung, die Unterstützer der Abtreibungsorganisationen sowieso, und der Gerichtshof erklärte das Verhalten der EU-Kommission in letzter Instanz für rechtmäßig.
Auf dieser Grundlage verweigert die EU-Kommission heute erneut einer erfolgreichen Europäischen Bürgerinitiative die Umsetzung, in diesem Falle geht es um den Schutz von Minderheitensprachen in den Mitgliedsländern. Insgesamt unterschrieben dafür nur 1.123.422 Bürger. Das sind beachtlich weniger Unterschriften als für den Schutz des ungeborenen Lebens. An diesem Beispiel wird allerdings die institutionalisierte Doppelmoral deutlich: der Kulturausschuss steht Kopf ob der Verweigerung der Kommission, die Forderungen der Bürgerinitiative umzusetzen. Die Beamten müssen sich erklären. Die Europaabgeordneten schelten die Kommission für die Missachtung des Grundrechts auf Bürgerbeteiligung. Das Plenum nimmt vorsorglich eine Entschließung zur Unterstützung der Bürgerinitiative an. Das ganze Arsenal ideologisch manipulierter Sprache wird mobilisiert – wegen Minderheitensprachen. Man hätte sich gewünscht, dass Brüssel dieselbe Verve auch beim Schutz des ungeborenen Lebens an den Tag legt. Aber der Virus der Doppelmoral und Scheinheiligkeit bestimmt vielfach die Politik in Europa, nicht nur in Brüssel, und ein Impfstoff ist nicht in Sicht. Braucht es ja auch eigentlich nicht. Es reicht, wahrhaftig zu sein.
Der Frühling kommt. Bleiben Sie negativ, wünscht Ihnen
Ihr
Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.