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Aufsatz des Monats

Wenn der zentrale Begriff vom Ursprung abgekoppelt ist

By 2. November 2015März 3rd, 2022No Comments

Menschenwürde und Lebensschutz – Zur Debatte um die Sterbehilfe

Von Prof. Dr. Ulrich Eibach

In westlichen Gesellschaften herrscht keine Einigkeit mehr darüber, was unter dem im Grundgesetz (GG Art.1) Deutschlands und vielen internationalen Abkommen  zentralen Begriff der Menschenwürde (MW) zu verstehen ist. Die Säkularisierung und die Pluralisierung der Lebens- und  Wertvorstellungen haben es mit sich gebracht, dass jede religiös-metaphysische und transzendente Begründung der MW als rational nicht begründbare und gesellschaftlich nicht mehr konsensfähige „Sonderethik“ abgelehnt wird. Wenn das diesseitigeg Leben aber kein „Jenseits“ mehr hat, dann wird auch unklar, welchen Sinn ein Leben hat, das von schwerer unheilbarer Krankheit und cerebralem „Abbau“  gekennzeichnet nur noch auf seinen Tod zuläuft. Unklar ist dann auch, ob es sich bei diesem Leben noch um ein „lebenswertes“ Leben handelt. Insbesondere Philosophen und auch Juristen der empiristisch-positivistischen Denkrichtung  behaupten, dass Mensch im Sinne von Person nur dasjenige biologisch von Menschen abstammende Leben sei, das über empirisch feststellbare körperliche und vor allem seelisch-geistige Qualitäten (wie Selbstbewusstsein, bewusste Interessen, Autonomie usw.) verfüge. MW komme nicht dem ganzen menschlichen Leben, dem „Lebensträger“ (=Organismus, Leiblichkeit),  sondern nur diesen geistigen Fähigkeiten zu, die weitgehend unversehrte Hirnfunktionen zur Voraussetzung haben. Werden  die Funktionen des Gehirns mehr oder weniger schwer geschädigt, so mindert sich die MW entsprechend und die MW und mit ihr das Recht auf Schutz des Lebens geraten sogar in Verlust, Leben werde zum bloß „biologisch-vegetativen“ Leben, wenn der Mensch sein Selbstbewusstsein verliert. Man vertritt also das  Konzept einer nach Lebensqualitäten abgestuften Wertigkeit des Lebens und unterscheidet grundsätzlich zwischen einem bloß biologisch menschlichen Leben einerseits, dem keine MW zukommt, und personal-menschlichem Leben andererseits, dem aufgrund seiner körperlichen, vor allem aber seelisch-geistigen Fähigkeiten MW zukommt, gegebenenfalls aber auch nur in einer je nach den empirisch aufweisbaren Lebensqualitäten abgestuften Weise.

Die entscheidende Weichenstellung hin zur Vorstellung von menschenunwürdigem Leben ist damit vollzogen, dass man MW und Personsein als empirisch feststellbare geistige Qualitäten  versteht, die nicht zugleich mit dem biologisch-menschlichen Leben gegeben sind (z.B. bei Embryonen, Feten), sondern erst im Laufe der weit fortgeschrittenen Lebensentwicklung auftauchen  oder die sich überhaupt nicht entwickeln können (hirnorganisch geschädigt geborene Kinder) oder die durch Krankheit und altersbedingten „Abbau“ in Verlust geraten können. Diese Auffassungen wurden zunächst vor allem in der angelsächsischen positivistisch-empiristischen Philosophie vertreten, die die internationale Diskussion über Bioethik beherrscht. Auf diesem Hintergrund stellt es im angelsächsischen  Bereich kein Problem dar, von frühen Embryonen als „Präimplantationsprodukten“ und von hirnorganisch schwer geschädigten und „abgebauten“ Menschen als „human vegetable“ oder „persistant vegetative state (PVS)“ zu sprechen. Selbst die Begriffe „human life“ und „human being“ besagen  –  so wie sie im „Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin“ des Europarats gebraucht werden – nicht, dass es sich dabei um „Personen“ handelt, denen MW zukommt.

Auch immer mehr deutsche Philosophen und selbst Verfassungsrechtler folgen dieser empiristischen Sicht der MW und deuten den Begriff MW in Artikel 1 GG als eine empirische Qualität des Lebens, die in erster Linie in einem empirisch aufweisbaren Selbstbewusstsein und der darauf aufbauenden Autonomie, einer Entscheidungs- und Handlungsfreiheit zu finden sei, die auch ein positives Recht auf Selbsttötung einschließe. Dem biologisch menschlichen Leben komme an sich weder MW noch Menschenrechte zu, sondern nur sofern es Voraussetzung und Träger des empirisch feststellbaren Sachverhalts „Autonomie“ sei. Ist dies nicht mehr der Fall, so erlösche auch der Anspruch, entsprechend der MW und Menschenrechte behandelt zu werden, denn wo keine Fähigkeit zu Selbstbestimmung mehr vorliege, könne  die Autonomie und mit ihr die MW auch nicht mehr durch andere verletzt werden. Dem entspricht, dass die Achtung der MW nicht mehr in erster Linie im Schutz des Lebens konkret wird, wie er nach Artikel 2 des GG’es geboten ist. Der Schutz des Lebens sei vielmehr von der Achtung der MW abzukoppeln, er sei der Achtung der Autonomie eindeutig unterzuordnen.

Das wirf freilich die Frage auf: Nach welchem Verständnis von MW ist das Grundgesetz zu interpretieren? Die kurz gekennzeichnete neuartige Deutung widerspricht dem bisher nach den Aussagen des Bundesverfassungsgerichts noch geltenden Verständnis des Artikel 1 des GG’es, nach dem die Würde des Menschen unverlierbar und unantastbar und immer zugleich mit dem Leben gegeben und zu achten ist. Ihre Achtung konkretisiert sich daher nach Art.2 im Recht auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit und – nach Art. 3,3  – darin, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Eingeschränkte oder fehlende „Lebensqualitäten“ begründen keine verminderte Achtung der Würde des Menschen und des Schutzes seines Lebens. Dem Leben selbst, also dem Lebensträger, der Leiblichkeit kommt Würde zu, sie ist Träger der MW, sie selbst gebietet Achtung und nicht nur die autonomen Fähigkeiten des Menschen.

Dieses Verständnis von der Würde des Menschen, das die Väter des GG’es leitete, ist maßgeblich durch die jüdisch-christliche Lehre von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen bestimmt.  Die Würde, Mensch und zugleich Person zu sein, gründet danach nicht in empirisch feststellbaren Qualitäten, sondern darin, dass Gott den Menschen zu seinem Ebenbild bestimmt hat. Kein Mensch wird dieser Bestimmung im irdischen Leben voll gerecht. Die Gottebenbildlichkeit wird letztlich erst im Reich Gottes, im Sein bei Gott vollendet. Diese letztlich zukünftige Würde ist jedoch dem irdischen Leben von Gott her bereits unverlierbar zugesprochen. Person ist der Mensch allein durch das, was Gott an ihm und für ihn tut. Der Mensch konstituiert weder sein Leben noch seine Würde selbst, sondern er empfängt sie von Gott her. Die MW ist also eine „transzendente Größe“, die von Gott her dem „Lebensträger“ (= Leiblichkeit) zugleich mit dem Gegebensein von Leben, also dem gesamten menschlichen Leben unverlierbar vom Beginn bis zum Tod zugeordnet ist und bleibt, daher nicht in Verlust geraten kann, wie versehrt auch immer Körper, Seele und Geist sein mögen. Es gibt also kein „würdeloses“ und „lebensunwertes“, bloß biologisch menschliches Leben. Im Unterschied zur Person können wir das, wozu der Mensch durch andere Menschen (Erziehung) und sich selbst wird, als Persönlichkeit bezeichnen. Sie ist in der Tat eine empirische Größe, die durch Krankheit abgebaut und zerstört werden kann. Identifiziert man die Person mit der Persönlichkeit, so wird zugleich das  Leben mit der Krankheit bzw. der Behinderung gleichgesetzt, der Mensch wird dann durch sie definiert, er ist Behinderter, Pflegefall usw. Man schließt dann zuletzt aus der Zerrüttung der Persönlichkeit, dass es sich um „minderwertiges“, wenn nicht gar „menschenunwürdiges“, „würdeloses“, bloß „vegetatives“ Leben handele, das man um seiner selbst wie auch um der Last willen, die es für andere darstellt, besser von seinem Dasein „erlösen“ solle.

Die idealistische und auch die empiristische Philosophie stellen die Autonomie in den Mittelpunkt ihres Menschenbildes, sie betrachten das  Angewiesensein auf andere Menschen als eine minderwertige Form des Menschseins. Nach christlicher Sicht ist Leben immer verdanktes, sich anderen verdankendes Leben. Der Mensch ist, um überhaupt leben zu können – nicht nur im Kindesalter, sondern bleibend das ganze Leben hindurch -,  auf  Beziehungen zu anderen Menschen angewiesen, nicht nur als Säugling und als behinderter und alter, sondern auch als gesunder und sich „autonom“ wähnender Mensch. Er lebt in und aus diesen Beziehungen und nicht aus sich selber, er verdankt ihnen und damit in erster Linie anderen und nicht sich selbst sein Leben. Daher ist das „Mit-Sein“ (Miteinandersein) Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins, hat seinsmäßigen Vorrang vor dem Selbstsein. Diesem Angewiesensein entspricht das Für-Sein der Anderen, ohne das Leben nicht sein, wenigstens aber nicht wirklich gelingen kann. Dies ist auch bei mündigen Menschen der Fall. Es tritt jedoch bei schwer kranken, behinderten und pflegebedürftigen Menschen am deutlichsten hervor, weil bei ihnen das „Aus-sich-selbst-leben-können“ am wenigsten möglich ist.

Das Leben verwirklicht sich in den heilsamen Grenzen endlichen Geschöpfseins, des Angewiesen- und Verwiesenseins auf andere, und zwar vor allem im Empfangen und Gewähren von Liebe. Erst von der Liebe bestimmte Beziehungen ermöglichen, stiften und schenken Leben, und nur in ihnen wird die Würde des Menschen wirklich geachtet, ja in ihnen wird der schwerst versehrte und pflegebedürftige Mensch durch die Liebe mit Würde „bekleidet“. Und die „Lebensgeschichte“, dieses „Sein-in-Beziehungen“ endet nicht damit, dass das „Für-sein“ – wie bei einer fortgeschrittenen Demenz oder im Extremfall bei der unwiderruflichen Bewusstlosigkeit („apallische Syndrom“, „Wachkoma“) – wieder zu einem völlig asymmetrischen, einem einseitigen „Für-den-anderen-Dasein“ wird. Auch die Fürsorge für solche Menschen ist Teil ihrer unverwechselbaren Lebensgeschichte. Die Leben ermöglichenden Beziehungen der Liebe haben mithin seinsmäßigen Vorrang vor der autonomen Lebensgestaltung.

Leben gründet in der aller selbsttätigen Lebensgestaltung vorausgehenden liebenden und Leben und Würde schenkenden Fürsorge Gottes. Erste Aufgabe von Menschen ist es, in ihrem Handeln dieser Fürsorge Gottes zu entsprechen, denn es gibt kein „würdeloses“ und  „lebensunwertes“ Leben, wohl aber Lebensumstände, die die Würde bedrohen, nicht zuletzt menschenunwürdige Behandlungen, vor allem von hilfsbedürftigen Menschen, die sich nicht mehr selbst schützen können. Solche Umstände können nur wirklich im Geist der Nächstenliebe bekämpft werden.

Nur wenn – wie z.B. im empiristisch-rationalistischen und im idealistischen  Menschenbild – Person mit Persönlichkeit identifiziert wird, kann es durch Krankheit zu einem Verlust des Personseins kommen. Aus christlicher Sicht darf der Grad der Entfaltung der Persönlichkeit aber nur unter der Voraussetzung für die Behandlung einer Person bedeutsam werden, wenn dadurch nicht die Menschenwürde und die Menschenrechte in Frage gestellt werden. Keinesfalls darf dies dazu führen, dass man ohne wirkliche Not das Recht auf Hilfe und Gesundheitsfürsorge derjenigen in Frage stellt, die in ihrer Persönlichkeit schwerst beeinträchtigt sind. Auch wenn es durch Krankheit und  Altern zum Abbau der Persönlichkeit kommt, haben wir in und „hinter“ der zerbrochenen Persönlichkeit die von Gott geschaffene und geliebte Person in ihrer einmaligen und unverlierbaren Würde zu sehen und sie entsprechend zu achten und zu behandeln. Nicht allein in der Achtung vor dem, was ein Mensch aus sich ohne den anderen kann, wird seine Würde geachtet als vielmehr und zutiefst gerade in der liebenden Fürsorge für den Menschen, der auf die Zuwendung und Hilfe anderer angewiesen ist, um leben zu können. Die Missachtung der MW schwer kranker und hilfsbedürftiger Menschen beginnt und endet nicht erst mit der Missachtung ihrer autonomen Fähigkeiten. Die Achtung der MW wird zutiefst in der Achtung der Ganzheit des Lebens, der ganzen Leiblichkeit konkret, unabhängig davon, ob der kranke Mensch dies bewusst wahrnehmen kann.

Ein Menschenbild, das das Leiden, die Hilfsbedürftigkeit, die Unheilbarkeit und das Siechtum – bis hin zur völligen Entmächtigung der Persönlichkeit durch Krankheit und Altern –  nicht einschließt,  sondern nur an Gesundheit,  Fitness, Glück und „Rationalität“ orientiert ist, verfehlt die Wirklichkeit des Lebens, ja stellt eine Gefahr für die schwächsten Glieder der Gesellschaft dar. Denn es setzt als Gegenbild die Fiktion von einer von Krankheiten, Leiden und Altersgebrechen freien Welt, indem es das Leben von unheilbarer Krankheit und vom Abbau der Lebenskräfte gekennzeichneten Menschen aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit in abgesonderte Institutionen verbannt, aus denen heraus sie die Fiktion von einer von Krankheiten, Leiden und Altersgebrechen freien Welt nicht mehr in Frage stellen können. Und in denen sie in dem Maße in ihrer MW und ihren Menschenrechten bedroht sind, in dem die Gesellschaft sie in erster Linie als Kostenfaktoren wahrnimmt.


Professor Dr. Ulrich Eibach lehrt Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Bis Ende 2007 war er Klinikpfarrer am Universitätsklinikum Bonn sowie Beauftragter der Evangelischen Kirche im Rheinland für Fortbildung und Fragen der Ethik in Biologie und Medizin.