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Aufsatz des Monats

Unter dem Deckmantel der Vielfalt

By 12. November 2014März 3rd, 2022No Comments

Kinder sollen ihre „Lieblingsstellung“ zeigen, Puffs planen, Massagen üben. Die sexuelle Aufklärung missachtet Grenzen. Die Politik will es so. Kinderschützer schlagen Alarm.

Von Antje Schmelcher

Jungen dürfen in Nordrhein-Westfalen von der achten Klasse an den Führerschein machen. Nicht den für das Kraftfahrzeug, sondern einen anderen: Wer Theorie- und Praxistest besteht, bekommt den Kondomführerschein. Dazu gibt es ein Paket mit Silikon-Penis, Augenbinde, Stiften, Übungs- und Prüfungsbögen, Lösungsbogen und Kondomen. Angeboten wird das Projekt von der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit in Nordrhein-Westfalen, deren Mitarbeiter auch die Prüfungen abnehmen. Bezuschusst wird es vom Familienministerium in NRW. Das Ministerium spricht von „Bildungsmaterial“ und weist darauf hin, dass die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung das Projekt für Schulen empfiehlt. In zwei Landesverbänden von Pro Familia nehmen Mitarbeiter diese „Prüfung“ ebenfalls ab.

Schulen können das Projekt also buchen. Dann kommt ein Referent der Landesarbeitsgemeinschaft, bringt das „Bildungsmaterial“ mit und gibt eine fünfstündige Einführung. Politisch ist diese Form der Projektarbeit zur Aufklärung von Kindern und Jugendlichen erwünscht. Der überkommene Unterricht von „Sexualkunde“, angesiedelt im Fach Biologie, soll fächerübergreifend erweitert werden. Die Grünen hatten 2013 in Baden-Württemberg vorgeschlagen, das Thema „sexuelle Vielfalt“ weg vom naturwissenschaftlichen in den Ethik-, Sprachen- oder Sozialkundeunterricht zu verlagern. Ähnlich klingen SPD und Grüne in Niedersachsen. Im März forderten die Fraktionen in einem Antrag, die „Kerncurriculae aller Klassenstufen“ so zu ergänzen, dass „die Lebenswirklichkeit von Menschen verschiedener sexueller Identitäten hinreichend Berücksichtigung und angemessene Behandlung findet“. Projektgruppen wie das Netzwerk SchLAu (SchwullesbischeBiTrans*Aufklärung), sollen mit Unterstützung des Landes Aufklärungsprojekte an Schulen durchführen, steht im Antrag.

Nun wird in einer schriftlichen Anhörung darüber gestritten, was „angemessen“ heißen soll. Die niedersächsische CDU wollte den Antrag so nicht mittragen und verwies auf Schulgesetz und Elternrecht, gerade in Fragen der Aufklärung. Auch vielen Eltern ging das zu weit, sie befürchten eine Übersexualisierung durch den Unterricht. Auf keinen Fall dürften Kinder diskriminiert werden, wenn sie sich sexuell anders entwickeln, sagt die Geschäftsführerin des Verbandes der Elternräte an den niedersächsischen Gymnasien, Petra Wiedenroth. Der Verband spricht für 250 000 Eltern in Niedersachsen. Doch die würden nicht eingebunden, klagen die Elternräte. Auch mit ausländischen Eltern gebe es keinen Dialog: „Haben die mal gefragt, was wohl die muslimischen Verbände davon halten?“, fragt Frau Wiedenroth. Die Eltern sind vor allem deshalb irritiert, weil es keine Altersgrenzen mehr gibt. Nicht geregelt ist außerdem, wer die Projektgruppen im Unterricht kontrolliert, wenn der Lehrer nicht dabei ist.

Eines nämlich ist gleich geblieben am Aufklärungsunterricht. Der Lehrer soll am besten aus dem Raum gehen. Doch statt wie früher einfach eine Schallplatte abzuspielen, muss heute Schluss sein mit der Verklemmung. Freiberufliche Sexualpädagogen und Aufklärer sollen den Lehrer ersetzen, vom studentischen Projekt „Mit Sicherheit verliebt“ über „Jugend gegen Aids“ (Schulprojekt „Positive Schule“) bis zur ehrenamtlichen Aktivistengruppe SchLAu. Ziel ist die fächerübergreifende Darstellung der sexuellen Vielfalt. Natürlich auch in den Schulbüchern. Wiedenroth hat sich ein neues Mathebuch angeschaut. Darin ist ein Haus eingezeichnet, in dem zwei Frauen wohnen, die bisexuell leben und ein Kind adoptiert haben. Dazu gibt es eine Textaufgabe. In dem Buch sind noch andere Häuser, erzählt Wiedenroth. In keinem davon wohnen Vater, Mutter, Kind.

Kein Wunder, denn manche Gruppierungen finden, dieses Familienbild sei „von vorgestern“. In der Einladung der den Grünen nahen niedersächsischen Stiftung „Leben und Umwelt“ zur Fachtagung „Homosexualität und Heteronormativität in Schulbüchern“ heißt es: „Diese Dominanz des hergebrachten Familienbilds wirkt umso unverständlicher, als die ehemalige Privatangelegenheit des sexuellen Begehrens inzwischen täglich öffentlich verhandelt wird.“ Also raus damit, am besten gleich in der Schule. Doch längst nicht alle schwulen und lesbischen Eltern würden hier zustimmen.

Wer sind die Vordenker dieser neuen Aufklärungswelle? Und ist sie überhaupt neu? Besonderen Einfluss haben die „Gesellschaft für Sexualpädagogik“, GSP, und ihr Mitgründer und Vorstand Uwe Sielert, Professor für Pädagogik in Kiel. Sielert ist der Vermittler einer Gender-Sexualpädagogik, mit der er drei Lebensumstände „entnaturalisieren“ möchte: die Kernfamilie, die Heterosexualität und die Generativität, also die Altersgrenzen zwischen den Generationen. Geforscht hat Sielert auch über Prozesse der Vergesellschaftung und über Jungenarbeit. Sielert kommt aus der Schule der sogenannten neoemanzipatorischen Sexualforschung, die der Sozialpädagoge und früher in breiten Kreisen verehrte Sexforscher Helmut Kentler begründet hat. Kentler nahm Jungen bei sich auf. Anfang der siebziger Jahre ließ er verwahrloste Jugendliche bei vorbestraften Päderasten unterbringen. Die bekamen Pflegegeld vom Senat, und Kentler schaute regelmäßig vorbei – zur „Supervision“. Es gab nie einen Aufschrei. Kümmern gegen Sex, das war der Deal. Wie später bei Gerold Becker in der Odenwaldschule. Kentler hat sich damals als Wissenschaftler und ganz besonders als Pädagoge selbst diskreditiert. Wer sich seitdem und heute noch auf ihn beruft, muss gute Gründe haben.

Sielerts Gesellschaft vergibt als einzige in Deutschland ein Siegel für Sexualpädagogen. Der Pädagoge ist gut vernetzt, etwa mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, deren Mitarbeiter er einst war. Auch das Institut für Sexualpädagogik wurde von ihm mitbegründet. Mit dem Fotografen Will McBride machte er in den neunziger Jahren das Buch „Zeig mal mehr“ in Anspielung auf McBrides umstrittenes Kinderbuch „Zeig mal“, zu dem wiederum Kentler das Vorwort geschrieben hatte. Sielert war auch Mitglied in mehreren Kommissionen, etwa der Kommission zur „Sexualethik der Evangelischen Kirche“ oder der Kommission „Sexualität, Gewalt und Pädagogik“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, deren Mitglied er auch ist. Sielerts Gender-Mainstream-Programm kann man im Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung nachlesen.

Mitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik ist auch die Kasseler Professorin Elisabeth Tuider. Zusammen mit Sielert hat sie ein Buch veröffentlicht: „Sexualpädagogik weiter denken“, Untertitel: „Postmoderne Entgrenzungen“. Tuider hat mit einigen Kollegen, alle in der GSP, außerdem das Standardwerk „Sexualpädagogik der Vielfalt“ verfasst. Das Autorenteam will Kindern und Jugendlichen durch „Praxismethoden“ beibringen, wo der „Penis sonst noch stecken“ könnte – um den Aspekt der „Vielfalt“ deutlich zu machen. Im Vorwort bezieht Tuider sich ausdrücklich auf Sielert und Kentler. In einer Übung sollen zehn Jahre alte Schüler aufgefordert werden, ihre „Lieblingsstellung/Lieblingssexualpraktik“ mitzuteilen, während sie sich zu dynamischer Musik schwungvoll durch den Raum bewegen.

Das Buch richtet sich an Pädagogen und Jugendarbeiter, die Auflage liegt bei 3000 Exemplaren. Es wird von SchLAu empfohlen – und vom Pro-Familia-Landesverband Niedersachsen. Pro Familia ist ein gemeinnütziger Verein, der mit Mitteln des Bundes, der Länder und Kommunen öffentlich gefördert wird. Unter dem Dach der „Volkssolidarität“ wurde ebenfalls mit dem Buch gearbeitet. Sogar ein Vorstandsmitglied der „Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention“ nutzt es in Workshops mit Kindern und Jugendlichen.

Als Methode möchten Tuider und ihre Mitstreiter ausdrücklich die „Verwirrung“ und die „Veruneindeutigung“ angewendet wissen. Kinder sollen zeigen, was sie sexuell immer schon mal ausprobieren wollten. Anweisung an die Pädagogen: „Die Leitung moderiert und nimmt, sofern sie will, an der Übung teil.“ Was die Kinder wollen, fragt keiner. Bei den Massagen für Zehnjährige, Stichwort „Gänsehaut“, genügt laut Anweisung jedenfalls dünne Kleidung, damit der unterschiedliche Druck und die verschiedenen Streichrichtungen auch erspürt werden können. Dabei dürfen verschiedene Massagetechniken angewendet werden, auch „vorgezeigt durch die Leitung“. Von außen sollte der Raum nicht einsehbar sein, empfehlen die Autoren.

Auch eine Wandzeitung darf nicht fehlen. Darauf sollen die Schüler „auch scheinbar Ekliges, Perverses und Verbotenes“ schreiben. Die Leitung erklärt das natürlich. Dann sollen die Schüler in Kleingruppen „galaktische Sexpraktiken“ erfinden, die auf der Erde verboten sind. Zu den Klangübungen gehören auch „lautes Stöhnen“ und „Dirty Talk“, für die lustigen Gipsabdrücke einzelner Körperteile wird viel Vaseline benötigt, zur Übung „Sexualität während der Menstruation“ von zwölf Jahren an können auch Gruppensex-Konstellationen in die Rollenspiele eingebaut werden. Aufgeklärt wird auch über Oral- und Analverkehr, Gang Bang, Spermaschlucken und den „neuen Puff für alle“.

Ursula Enders vom Verein „Zartbitter“ gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen hält das für übergriffig. In der Arbeit der Fachberatungsstellen würden täglich das große Ausmaß der sexualisierten Gewalt durch Jugendliche und die durch die starke Pornographisierung der Gesellschaft ausgelöste Verwirrung vieler jugendlicher Mädchen und Jungen deutlich, sagt Enders. Sexualpädagogik müsse Orientierung für einen Grenzen achtenden Umgang mit Sexualität vermitteln und zugleich einen geschützten Raum zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten bieten. „Eine Sexualpädagogik der Vielfalt“, die mit sexuell grenzverletzenden Methoden arbeitet, sei ein Etikettenschwindel. „Dies ist eine neue Form sexualisierter Gewalt, die zudem sexuelle Übergriffe durch Jugendliche fördert“, sagt Enders. In den achtziger Jahren hätten Pädosexuelle sexuellen Missbrauch und die Missachtung der Grenzen zwischen den Generationen als fortschrittliche Sexualpädagogik verkauft. Heute würden von einigen Autoren und Sexualpädagogen berechtigte Anliegen der Transgenderbewegung benutzt, um älteren Kindern und Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit Formen der Sexualität aufzudrücken, die persönliche Grenzen verletzen, so Enders. Es entspreche keineswegs den Fragen von 14 Jahre alten Mädchen und Jungen, wenn sie zum Beispiel für eine Gruppenübung Sexartikel wie einen Dildo, Potenzmittel, Handschellen, Aktfotos und Lederkleidung erwerben sollen. Enders fragt: „Wie mag eine Jugendliche, die im Rahmen von Kinderprostitution verkauft wird, sich wohl fühlen, wenn sie im Sexualkundeunterricht einen ,neuen Puff für alle‘ planen soll?“

„Das ist brandgefährlich“, sagt auch die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Christina Hennen von der Vereinigung Deutscher Psychotherapeuten. Eine solche Sexualpädagogik sei der Versuch, die Schamgrenzen von Kindern und Jugendlichen aufzubrechen. Pädagogen, die die Abhängigkeit der Schüler ausnutzen, könnten so Gehorsam erzwingen, glaubt Hennen. Sie hält den vermeintlichen Aspekt von „Vielfalt“ und „Ganzheitlichkeit“ für vorgeschoben. „Hier wird versucht, die Realität der Kinder auszublenden, auch mögliche negative Erfahrungen wie Missbrauch und Gewalt“, so die Psychotherapeutin. Sie hält diese Art der Sexualpädagogik für eine aufgewärmte Geschichte. Unter dem Vorzeichen von „Gender“ komme hier zurück, was schon in der Kinderladenbewegung und der Reformpädagogik als übergriffig erkannt wurde. „Die Kinder werden hier gezielt verwirrt. Dabei brauchen sie gerade in der Persönlichkeitsreifung natürlich Toleranz, aber auch Eindeutigkeit und Strukturen.“ Und biologische Unterschiede gebe es sehr wohl, sagt Hennen. Längst nicht alles sei anerzogen, auch nicht die sexuelle Ausrichtung.

Ein Staatsanwalt geht noch weiter. In dem Buch fänden sich ganz klar Anweisungen, die Pädophilen als Ermunterung zum Missbrauch von Kindern dienen könnten, sagt der Ermittler, der sich seit zehn Jahren mit sexuellem Kindesmissbrauch und Internet-Pornographie beschäftigt. Ähnliche Texte habe er immer wieder auf Rechnern pädophiler Täter gefunden, sagt der Staatsanwalt.

Zum Tod Helmut Kentlers hat Frau Professorin Tuider 2008 den Nachruf geschrieben – gemeinsam mit Rüdiger Lautmann. Der Bremer Soziologe hat 1994 ein Buch veröffentlicht: „Die Lust am Kind. Porträt des Pädophilen“. Im Jahr 2006 war Lautmann trotzdem Mitglied des Beirats des Forschungsvorhabens „rechtstatsächliche Untersuchung zur Situation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften/Lebensgemeinschaften“. Dazu eingeladen hatte das Bundesministerium für Justiz.

Nur in Baden-Württemberg ist der sogenannten Vielfalt ein herber Dämpfer verpasst worden. Bernd Saur vom Deutschen Philologenverband freut sich, dass Eltern und Lehrer gemeinsam diese Art der Aufklärung abwenden konnten. In den Leitlinien zum Bildungsplan, der auf 2016 verschoben wurde, stehen Ehe und Familie wieder vorne. Saur hat auch die Kinder dazu gefragt. Bei den Fünftklässlern, Saur nennt sie „Fünferle“, kam er nach dem Biologie-Unterricht ins Klassenzimmer. „Was habt ihr gerade gehabt?“, fragte er. „Sexualkunde“, sagten die Kinder. Ein Mädchen fügte hinzu: „Wir haben das alles gelernt, aber brauchen tun wir es erst später.“

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 12.10.2014, Nr. 41, S. 3