Bei dem inflationären Gerede um den demografischen Wandel geht das eigentliche Problem unter. Denn was genau ist der demografische Wandel? Er setzt sich zusammen aus der Erhöhung der Lebenserwartung und den fehlenden Geburten. Die Verlängerung der Lebensspanne ist dabei aber nicht das Problem: Wer länger lebt und im Durchschnitt länger gesund und fit ist, wird natürlich länger arbeiten. […]Die Veränderungen am anderen Ende der Demografie – die fehlenden Geburten seit Mitte der 1970er Jahre und damit ein Schrumpfen der aktiven und innovativen jungen Generation, die ihrerseits selber wiederum Nachwuchs zeugen kann – sind sehr viel gravierender. Sie stellen das eigentliche Problem dar. Unbegreiflicherweise sind die Kosten des fehlenden Nachwuchses nicht nur ungleich, sondern geradezu pervers verteilt. Wenn die fehlenden Geburten das eigentliche Problem für die sozialen Umlagesysteme unserer Gesellschaft darstellen, dann müsste die Erziehung von Kindern doch in diesen Systemen ebenso eingepreist sein wie die monetären Beitragszahlungen. Das Gegenteil ist der Fall. Eltern mit vielen Kindern, in denen ein Elternteil sich weniger in der Erwerbsarbeit engagiert, bekommen im Alter niedrigere Rentenbezüge als ein kinderloses Paar, bei dem beide Partner durchgängig in Vollzeit gearbeitet haben. Diese Schieflage blieb dem Bundesverfassungsgericht nicht verborgen und so hat es seit den 1990er Jahren in einer Reihe von Entscheidungen die Bedeutung von Kindern herausgearbeitet.
Die Kinderethik des Bundesverfassungsgerichts…
Es begann mit dem Steuerrecht. Das Gericht stellte fest, dass der Steuerstaat nicht dasjenige Einkommen besteuern darf, das die Eltern benötigen, um das Existenzminimum der Kinder abzudecken. Zur Begründung der horizontalen Gleichheit folgten Klarstellungen über die Bedeutung von Kindern, die in dieser Schärfe über den gesellschaftlichen Konsens weit hinausgehen. Sie stellen den Kern einer neuen verfassungsrechtlichen Kinder-Ethik dar. Unterhaltsaufwendungen für Kinder können nämlich nach Auffassung des BVerfG grundsätzlich nicht denjenigen Aufwendungen im privaten Bereich gleichgestellt werden, die nach der Grundregel des § 12 Nr. 1 EStG als allgemeine Kosten der Lebensführung steuerlich nicht abzugsfähig sind. Stattdessen minderten die Ausgaben für Kinder regelmäßig die Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen. Kinder und private Bedürfnisbefriedigung dürften danach nicht auf eine Stufe gestellt werden. […] Diese Sätze stellen keineswegs eine überflüssige Wiederholung einer allgemein gültigen Anschauung dar, denn die klassische Volkswirtschaftslehre bewertet Kinder nach wie vor als rein konsumtive Güter, deren Anschaffungs- und Folgekosten sich grundsätzlich nicht von denen eines Autos der gehobenen Luxusklasse unterscheiden: Nach dieser Lesart obliegt es der freien Entscheidung von Erwachsenen, ihr Geld für Kinder oder für andere kostenintensive Konsumgüter auszugeben. An die Gesellschaft kann danach weder der Anspruch herangetragen werden, die Kosten für eine Segelyacht noch die für die Erziehung eines Kindes zu kompensieren (So z.B. Bert Rürup in der FAZ vom 29.4.2003). Diese Auffassung muss nunmehr als überholt gelten, denn das BVerfG hat eindeutig klargestellt, dass Kinder keine Privatsache und kein kostenintensives Sondervergnügen der Eltern sind, das diese entweder vermeiden können oder aber dessen Folgen sie selber zu tragen haben.
Schon in seiner Trümmerfrauen-Entscheidung vom 7.7.1992 hat das BVerfG deutlich die strukturelle Benachteiligung kindererziehender Eltern im bestehenden Alterssicherungssystem herausgearbeitet. Dennoch kam das Gericht seinerzeit noch zu dem Ergebnis, dass Kindererziehung und Beitragszahlung nicht „gleichartig“ seien und der Gleichheitsverstoß deshalb gerechtfertigt sei. In seiner Pflegeversicherungs-Entscheidung vom 3. April 2001 hatte das BVerfG dann allerdings den Vergleichsmaßstab (tertium comparationis) gefunden, unter dem sich Kindererziehung und Beitragszahlungen vergleichen lassen: „Damit erwächst Versicherten ohne Kinder im Versicherungsfall ein Vorteil aus der Erziehungsleistung anderer beitragspflichtiger Versicherter, die wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten“ (BVerfGE 103, S. 242, 264). Der gemeinsame Nenner von Versicherungsbeiträgen und Kindererziehung besteht in der Tat darin, dass die monetären Beiträge einen Verzicht auf „Konsum und Vermögensbildung“ in Form eines um die Sozialabgaben reduzierten Einkommens zugunsten der gegenwärtigen Rentnergeneration darstellen, während die Kindererziehung mit einem Konsumverzicht in Form eines fehlenden oder reduzierten Einkommens der Erziehungsperson und in Form privater Unterhaltskosten für den Nachwuchs einhergeht.
… und die Familienpolitik tut das Gegenteil
Es waren und sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, dass die neuen Grundsätze für das Umlageverfahren der Rentenversicherung nicht gelten sollten. Selbst schärfste Kritiker konzedierten seinerzeit, dass die Aussagen zum generativen Beitrag der Kindererziehung wohl vor allem mit Blick auf die Rentenversicherung getroffen wurden. In der Folge des BVerfG-Urteils von 2001 passierte allerdings etwas sehr seltenes. Normalerweise wird durch eine Entscheidung des BVerfG eine neue herrschende Meinung begründet – in diesem Fall jedoch nicht. Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haben dem Gericht die Gefolgschaft verweigert, das BVerfG blieb in der Mindermeinung. Die Bundesregierung hat im November 2004 offiziell erklärt, dass sie das Urteil des BVerfG zur sozialen Pflegeversicherung vom 3. April 2001 im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nicht umsetzen wird.
Wir sind seither in einer paradoxen Situation: Gerade weil die Geburtenrate über Jahrzehnte zu niedrig war und eine demografische Abwärtsspirale in Gang gesetzt hat, weil nicht geborene Kinder ihrerseits keinen Nachwuchs zeugen können, wird es zu einem eklatanten Mangel an Arbeitskräften kommen, deren Anfänge wir gerade beobachten können. Deshalb müssen alle in die Erwerbsarbeit einbezogen werden. Die plötzliche Entdeckung und Mobilmachung der Mütter für den Arbeitsmarkt gehört dazu. Damit wird denjenigen, die Kinder erziehen, immer weniger Zeit für Kinder zugestanden. Wenn sie in Ballungsräumen leben, können sie es sich in der Regel auch gar nicht leisten, Erwerbsarbeit zugunsten der Kindererziehung zu reduzieren, denn Mieten sind hoch, weil Kinderlose mit ihrer Marktmacht die Mieten hochtreiben – und die Einkommen sind niedrig, weil sie von hohen Sozialabgaben zugunsten der alten Generation heute schon geschmälert sind. Eltern werden – obwohl sie die problematische Seite der demografischen Entwicklung, das Geburtendefizit, nicht verantworten – in die Mit-Haftung genommen. Die Bedingungen, unter denen sie ihre Kinder erziehen, verschlechtern sich immer mehr. Was waren das noch für Zeiten, als es als normal galt, dass eine Mutter die ersten drei Lebensjahre eines Kindes zuhause blieb und danach höchstens in Teilzeit arbeitete. Nicht, dass dies ein Ehemodell ist, dem ich anhänge. Ich will damit nur zeigen, wie sehr die Zeit, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren an persönlicher Betreuung durch seine Eltern beanspruchen darf, geschrumpft ist. Das neue soziale Leitbild hat nur noch die ersten 12 Monate als Schutzraum eingerichtet. Zum Trost gibt es den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab Vollendung des 12. Lebensmonats.
Parallel dazu schrumpfen die Leistungen der Gesellschaft für die Kindererziehung: Wenn Mütter tendenziell vollberufstätig sind, dann beziehen sie weniger oder keine Hinterbliebenenrente mehr, weil ihre eigene Versichertenrente angerechnet wird. Früher – man vergisst es schnell – konnten Frauen auf Kosten der Rentenversicherung eher in Rente gehen, weil sie das für die Doppelbelastung entschädigen sollte. Als immer mehr Frauen kinderlos blieben, ließ sich dieses Privileg natürlich nicht halten. Die berufstätige Mutter kommt auch nicht mehr in den Genuss der sog. beitragsfreien Mitversicherung in der Krankenversicherung und das Ehegattensplitting greift nicht mehr. Man muss sich klarmachen, dass vollberufstätige Eltern besteuert werden wie Singles. Auch damit verschwindet Familie vom Bildschirm.
Die beiden wichtigsten Reformen wären daher:
1. Die Beitragsgerechtigkeit für Eltern in der Sozialversicherung. Der Unterhalt für Kinder muss von der Beitragsbemessung freigestellt werden. Eltern bliebe mehr von ihrem Bruttoeinkommen. Die Kosten der Kinderlosigkeit muss für die Kinderlosen in die Beiträge eingepreist werden.
2. Zeit für Kindererziehung muss im Steuerrecht eingestellt werden. Das Ehegattensplitting bewirkt auch eine Minderung des Erwerbsdrucks für Eltern. Für Kinder, die außerhalb der Ehe erzogen werden bzw. für Kinder, deren Eltern beide vollberufstätig sind, findet dieser Ausgleich jedoch nicht mehr statt. Zeit für Kindererziehung muss als Faktor, der die Leistungsfähigkeit der Eltern mindert, unabhängig vom Ehegattensplitting im Steuerrecht mit einem weiteren Freibetrag honoriert werden, so dass die Einkommen der Eltern noch ein weiteres Mal entlastet werden.
Professor Dr. jur. Anne Lenze lehrt Familien-, Jugend- und Sozialrecht im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und soziale Arbeit an der Universität Darmstadt.
Der Aufsatz ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den sie am 24.6.2014 in Mainz bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung und des iDAF hielt. In dieser Reihe steht auch die Veranstaltung am 23. September, ebenfalls in Mainz –> nähere Informationen siehe hier