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Aufsatz des Monats

Gender Mainstreaming: Emanzipation oder Tyrannei?

By 24. November 2013März 4th, 2022No Comments

Aufsatz des Monats 1 / November 2013

Von Robert Spaemann

Das Wort „Gender Mainstreaming“ ist den meisten Bürgern unseres Landes nicht bekannt. Es ist ihnen daher auch nicht bekannt, dass sie seit Jahren von Seiten der Regierungen, der europäischen Autoritäten und einem Teil der Medien einem Umerziehungsprogramm unterworfen sind, das bei den Insidern diesen Namen trägt. Was durch Re-Education aus den Köpfen eliminiert werden soll, ist eine jahrtausendealte Gewohnheit der Menschheit: die Gewohnheit, Männer und Frauen zu unterscheiden; die gegenseitige sexuelle Anziehungskraft beider Geschlechter, auf der die Existenz und Fortexistenz der Menschheit beruht, zu unterscheiden von allen anderen Formen der Triebbefriedigung, sie diesen gegenüber durch Institutionalisierung zu privilegieren und sie bestimmten humanisierenden Regeln zu unterwerfen. Die Umerziehung betrifft letzten Endes die Beseitigung der im Unvordenklichen gründenden schönen Gewohnheit, die wir Menschsein und menschliche Natur nennen. Emanzipieren sollen wir uns erklärtermaßen von unserer Natur.

Das Wort „Emanzipation“ meinte einmal so etwas wie Befreiung. Emanzipation von unserer Natur kann nur heißen: Befreiung von uns selbst. Der Begriff der politischen Freiheit wurde im alten Griechenland geprägt und meinte anfänglich: auf gewohnte Weise leben dürfen. Der Tyrann war der, der die Menschen daran hindert, der sie umerziehen will. Von solcher Tyrannei handelt dieses Buch. Es ist ein Aufklärungsbuch. Es klärt uns auf über das, was zur Zeit mit uns geschieht, mit welchen Mitteln die Umerzieher arbeiten, und mit welchen Repressalien diejenigen zu rechnen haben, die sich diesem Projekt widersetzen. Und zwar nicht nur diejenigen, die in der zur Diskussion stehenden Sache Partei ergreifen, sondern […] alle, die in diesem Zusammenhang irgendwann einmal eingetreten sind für die Freiheit, seine Meinung zu äußern in einer offenen Diskussion.

Seit Jahren ist in unserem Land und europaweit eine wachsende Diskussionsverweigerung im Namen der „politischen Korrektheit“ zu beobachten. Dem vom Mainstream Abweichenden wird nicht mit Argumenten erklärt, inwiefern er irrt, sondern es wird ihm gesagt: „Das hättest du nicht sagen dürfen.“ Ich erinnere hier nur an den Fall Sarrazin. Er wird nicht widerlegt, sondern geächtet. Was dahinter steht, ist der sich ausbreitende Wahrheitsrelativismus. Wahrheit beanspruchen gilt als Intoleranz. Dabei ist das Gegenteil richtig. Wahrheitsansprüche erheben heißt, eine Meinung der diskursiven Prüfung aussetzen. Wenn es Wahrheit nicht gibt, dann kann es eine solche Prüfung gar nicht geben, dann sind Diskurse nur verschleierte Machtkämpfe, eine Meinung ist dann nicht wahr oder falsch, sondern herrschend oder abweichend und im letzteren Fall der Ächtung ausgesetzt. Natürlich entspringt das Wahre nicht erst dem Diskurs. Es wird durch ihn nur geprüft. Es ist auch vor dieser Prüfung wahr und intuitiv überzeugend. Wenn wir erfahren, dass in Londoner Kindergärten und in schwedischen, die als besonders fortschrittlich gelten, der Gebrauch der Worte „Vater“ und „Mutter“ durch die Betreuer verboten ist und durch geschlechtsneutrale Worte ersetzt wird – aus österreichischen Amtsstuben wird Ähnliches berichtet –, dann schwanken in der Regel die Gefühle zwischen Kopfschütteln und Empörung, vor allem weil das Volk seine Vertreter niemals dazu legitimiert hat, von ihnen umerzogen zu werden.

Was ist das Motiv dieser Absurditäten? Man spricht es klar aus. Kinder, denen man zuerst die Adoption durch ein gleichgeschlechtliches Elternpaar zugemutet hat, sollen nun nicht das Gefühl haben, dass andere etwas haben, was ihnen fehlt. Damit es keine Anomalität mehr gibt, wird der Begriff des Normalen tabuisiert und unter Ideologieverdacht gestellt. Dabei ist Normalität für alles Lebendige konstitutiv. Im Bereich der unbelebten Natur, also im Bereich der Physik, gibt es keine Normalität, sondern nur strenge Gesetzmäßigkeit. Überall dagegen, wo es Leben gibt, gibt es so etwas wie ein artspezifisches „Aus-Sein-auf-etwas“. Und dieses, worauf die Natur aus ist, kann auch durch eben dieselbe Natur verfehlt werden. Es gibt, wie Aristoteles schreibt, „Fehler der Natur“. Der Instinkt, den jungen Löwen das Jagen beizubringen, gehört zur Natur der Löwenmutter, ohne ihn werden die Jungen nicht lebensfähig, und ohne ihn gäbe es gar keine Löwen. Das Fehlen dieses Instinkts ist daher eine Anomalie.

Der Begriff einer normativen Normalität ist unverzichtbar, wenn es um den Umgang mit Lebensvorgängen geht. Irrtümer auf diesem Feld sind lebensgefährlich für die Menschheitsfamilie. Dass Gabriele Kuby den Mut hat, die Bedrohung unserer Freiheit durch eine antihumanistische Ideologie beim Namen zu nennen, bringt ihr möglicherweise Feindseligkeit, ja sogar Hetze ein. Sie hat stattdessen für ihre Aufklärungsarbeit unser aller Dank verdient. Möglichst viele Menschen sollten dieses Buch lesen, um aufmerksam zu werden, was auf sie zukommt, wenn sie sich nicht wehren.


Prof. Dr. Robert SpaemannGeleitwortin: Gabriele Kuby: Die globale sexuelle Revolution. Zerstörung der Freiheit im Namen der Freiheit, Kißlegg 2012. Bei Frau Gabriele Kuby bedankt sich IDAF für die freundliche Genehmigung zur Wiederveröffentlichung.