– Wie das Fundament der Rechtsstaatlichkeit in der EU brüchig wird
von Jürgen Liminski
Zu den großen Errungenschaften des Europäischen Einigungswerks gehört die Rechtsstaatlichkeit. Es ist der Primat des Rechts über die Stärke. Sie hegt die Stärke ein im Gewaltmonopol des Staates. Diese Balance zwischen Recht und Stärke, zwischen Staat und Individuum sorgt für Gerechtigkeit und somit für inneren Frieden, was schon im Alten Testament zu lesen ist (Jesaja, 32,17). Demnach ist der Friede die Frucht der Gerechtigkeit oder des geordneten Rechts, eine These, die von (politischen und theologischen) Philosophen, zum Beispiel Augustinus und Thomas von Aquin bis hin zu Kant geteilt wird. Die Wurzeln der Rechtsstaatlichkeit reichen also sehr viel tiefer als die Gründungsakte der Europäischen Union vor gut 61 Jahren. Als Väter des Rechtsstaats, ja auch der Menschenrechte in Europa, kann man auch die Schule von Salamanca und hier die zwei bekanntesten Vertreter, die Dominikaner Francisco de Vitoria und Francisco Suarez, in gewisser Weise auch Bartolomé de las Casas nennen. Sie setzten auf dem Kontinent um, was die Briten in ihrer Magna Charta drei Jahrhunderte zuvor schon im Ansatz formuliert hatten und ein Jahrhundert nach Vitoria und Suarez in ihrer Habeas-corpus-Akte 1640 und 1679 in Gesetzesform gossen. Es ging um die wesentlichen Menschenrechte, wie sie 1789 dann in der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) erstmals für alle Menschen in den drei Grundsätzen von persönlicher Freiheit, Rechtsgleichheit und Weltbürgertum (»Liberté, Égalité, Fraternité«) proklamiert wurden. Zwar wurden diese Grundsätze oft mißbraucht und von kommunistischen Regimen geradezu in ihr totalitäres Gegenteil verkehrt, und auch die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von 1791 wurde nie in die Verfassung aufgenommen. Dennoch bilden diese Texte die Grundbausteine der Rechtsstaatlichkeit in Europa. Übrigens auch in Amerika, wo 1791 die Amerikanische Bill of Rights, der Grundrechtskatalog, formuliert wurde, der dann in Form von Verfassungszusätzen (Amendments) in die Verfassung aufgenommen wurde. 1948 folgte schließlich die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN-Generalversammlung am 10. Dezember, maßgeblich motiviert durch die Menschenrechtsverletzungen des Zweiten Weltkriegs. Viele Staaten haben seither diese Erklärung in ihre Verfassung (Grundgesetz) aufgenommen und der 10. Dezember wird deshalb als internationaler Tag der Menschenrechte begangen.
Fast zeitgleich wurde die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats erarbeitet und schließlich am 4.November 1950 in Rom unterzeichnet. Sie enthält einen Katalog von Grund- und Menschenrechten und trat am 3. September 1953 allgemein in Kraft. Völkerrechtlich verbindlich ist allein ihre englische und französische Sprachfassung, nicht hingegen die zwischen Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz vereinbarte gemeinsame deutschsprachige Fassung. Als so genannte geschlossene Konvention kann sie nur von Mitgliedern des Europarats – sowie von der Europäischen Union unterzeichnet werden. Die Bereitschaft zur Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK hat sich im Laufe der Zeit zu einer festen Beitrittsbedingung für Staaten entwickelt, die dem Europarat angehören möchten. Daher haben alle Mitgliedsstaaten des Europarats die Konvention unterzeichnet und sollten ihr auch innerstaatlich Geltung verschaffen, was natürlich nicht überall geschieht, Stichwort Russland.
Das ist der historisch-juristische Rahmen der Rechtsstaatlichkeit in Europa. Im Wurzelwerk war die Verbindung zum Naturrecht und zum Schöpfer dieser Natur noch intakt, Francisco Suarez etwa behandelte das ius gentium, das Völkerrecht in seinem Traktat „Über die Gesetze und Gott als Gesetzgeber“. Zwei Tendenzen drohen nun diese Rechtsstaatlichkeit, das Fundament des europäischen Gemeinwesens, auszuhöhlen und zu zerstören. Es ist zunächst der Relativismus, die Schwester des Nihilismus, der den Baum der Rechtsstaatlichkeit von seinem Wurzelwerk kappt und schon im neunzehnten Jahrhundert den Weg zum Rechtspositivismus geebnet hat. Demnach entscheidet nicht mehr die Suche nach Richtig oder Falsch, nach Wahrheit oder Ideologie, nach Natur oder Macht über die Gesetze, sondern die Mehrheit entscheidet. Mehrheit schlägt aber nicht nur Wahrheit. Mehrheit ändert auch Grundrechte. So wuchert der Baum der Rechtsstaatlichkeit unkontrolliert vor sich hin. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren beschleunigt.
Die zweite Tendenz legt es darauf an, selbst die Balance zwischen Staat und Individuum zu umgehen und damit die Mehrheit in den einzelnen Nationen Europas als Voraussetzung für Gesetze zu überspringen. Der Staat selbst soll nicht mehr allein zu entscheiden haben. Diese Tendenz ist von der Öffentlichkeit noch weitgehend unbemerkt, wird aber gehandhabt. Beispiel der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, der mit dem Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg nichts zu tun hat. So hat der Europäische Gerichtshof am 15. Juni dieses Jahres entschieden, dass der Begriff „Ehegatte“ im Rahmen des Gemeinschaftsrechts geschlechtsneutral sei und mithin die Homo-Ehe vollumfänglich und überall mit der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt werden müsse (Rechtssache C-673/16). Damit widersprach der EuGH aber nicht nur sich selbst (2001 urteilte er noch, dass „der Begriff Ehe eine Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts bezeichnet“ EuGH, 31.05.2001 – C-122/99 P, C-125/99 P und bislang haben nur dreizehn von achtundzwanzig Mitgliedsstaaten, zuletzt auch Deutschland, die gleichgeschlechtliche Ehe der Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts gleichgestellt), sondern maßt sich auch Kompetenzen an, für die er kein Mandat hat. Keine Mehrheit, kein Vertrag der Staaten hat ihn für solche Entscheidungen berechtigt. Der Gerichtshof der Europäischen Union entwickelt sich seit 1963 zum unberechenbaren Zauberlehrling. Die Unionsrichter machen ungeniert Politik ohne demokratisches Mandat aber mit der Attitude des unantastbaren Juristen. Doch niemand wagt es, die Richter in ihre Schranken zu weisen, geschweige denn handfeste Konsequenzen aus ihrer Selbstherrlichkeit zu ziehen.
Der Gerichtshof hat eigentlich nur die Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern. So steht es in Artikel 19 Abs. 1 Satz 2 des EU-Vertrags. Der Gerichtshof der EU entscheidet also bei Vertragsverletzungsverfahren, die die EU-Kommission gegen Mitgliedsstaaten anstrengt, wenn die Kommission die Anwendung des Unionsrechts beanstandet. Aus politischer Sicht wichtiger sind indes die sogenannten Vorabentscheidungsverfahren. Hier setzte sich – weitgehend unbemerkt – eine Praxis durch, die eine Selbstunterwerfung der Mitgliedsstaaten gegenüber der EU zur Gewohnheit macht. Die höchsten Gerichte der Mitgliedsstaaten, die letztinstanzlich über einen Fall mit Europabezug urteilen, müssen im Zweifelsfall verpflichtend den EuGH zur Vorabentscheidung anrufen. Die EU-Richter verschiedener Nationalitäten geben dann zum Beispiel dem deutschen Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor, wie deutsche Richter deutsches Recht anzuwenden haben. Hier ist eine Grauzone, die der EuGH geschickt gefüllt hat und das zeigt einmal mehr, wie unkontrolliert und politisch mächtig dieses unbekannte Organ der Europäischen Union ist: deutsche Bundesrichter müssen im Zweifel den Fall in Luxemburg vorlegen und dürfen nur im Sinne des EuGH deutsches Recht sprechen. Allen anderen Mitgliedsstaaten geht es genauso. Dieser Rechtsaktivismus begrenzt die Demokratien Europas, es handelt sich um eine Anmaßung von politischer Verantwortung.
Die Verselbständigung der Urteilsfindungen auf dem Kirchberg-Plateau in Luxemburg begann bereits wenige Jahre nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Es ist der Preis jener Europa-Begeisterung der Nachkriegsgeneration, die – historisch verständlich – die «europäische Integration» in Forma der stufenweisen Abgabe nationaler Entscheidungshoheit in allen Politikfeldern an die supranationalen EU-Behörden vorantrieben und die EU-Verträge wie ein heiliges Buch behandelten, das nicht angezweifelt werden durfte. So ließen sie den Gerichtshof einfach gewähren.
Der Hof spielte das Spiel gerne mit. Es erfolgten in den sechziger Jahren die Urteile mit den Entscheidungen Van-Gend-&-Loos (5. Februar 1963) und Costa/Enel (15. Juli 1964). Der EuGH setzte in diesen Urteilen aus eigenem Gutdünken den absoluten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten fest. Doch dieser absolute Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen war nirgendwo in den Römischen Verträgen vorgesehen. Hätten das die Gründerväter der heutigen EU ausdrücklich so gewollt, hätten sie es auch so in den Marmor der Gründungsurkunde gemeißelt. Haben sie aber nicht. Also sprachen sich die Luxemburger Richter aus der politischen Situation des Integrationsprozesses heraus selbstherrlich eine Vorrangrolle zu. 1963 urteilten sie: „Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft stellt eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts dar, zu deren Gunsten die Staaten ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben.“ Niemand protestierte über diese Feststellung einer von niemandem beschlossenen „neuen Rechtsordnung“. Der Europäische Gerichtshof ging in der Costa/Enel-Entscheidung 1964 noch einen Schritt weiter: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist. Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen die von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen.“ Absoluter Vorrang des Gemeinschaftsrechts und Verbot an die Mitgliedstaaten, eigene Maßnahmen zu erlassen: Man muss sich fragen, ob es im Rückblick politisch klug war, gegen diese Selbstherrlichkeit nicht von Anfang an aufzustehen.
Der Europäische Gerichtshof ist zweifellos notwendig, seine Praxis aber problematisch und die Folgen seiner Selbstermächtigung sind noch nicht absehbar. Es ist der Versuch, die Vereinigten Staaten auf undemokratische Weise, sozusagen durch die juristische Hintertür zu schaffen. Man agiert nach dem Motto, das EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einmal im SPIEGEL (52/1999 vom 27. Dezember 1999, S. 136) so beschrieb: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ Und Juncker scheute auch nicht vor dem Bekenntnis zurück: „Wenn es ernst wird, müssen wir lügen.“ (FOCUS 19/2011 vom 9.5.2011).
Genau das geschieht heute. Aber welche Vereinigten Staaten von Europa sollen dabei herauskommen? Die Selbstermächtigung der Richter in Luxemburg und der Kommission in Brüssel hebelt nicht nur die Souveränität der Nationen aus, sondern damit auch die Gewaltenteilung selbst. Die Legislative, die nationalen und durch Wahlen legitimierten Parlamente laufen ins Leere. Sie können beschließen, was sie wollen, wenn es den Europäischen Richtern und/oder Kommissaren nicht gefällt, wird es kassiert. Die Regierungen könnten den Prozess stoppen, die Souveränität wahren und die Integration der Staaten auf Bereiche lenken, die allen dienen. Aber sie stehen im Bann zusammenbrechender oder schmelzender Parteien und neuer Bewegungen, die vorwiegend noch vom Protest gegen das Establishment leben. So droht auch die Demokratie in Europa ausgehöhlt und zu einer Leerhülse zu werden zugunsten einer linksliberal gepolten Oligarchie von Technokraten. Die neuen, „populistischen“ – was immer das heißt – Bewegungen leben vom Unbehagen der Menschen an der schleichenden Auszehrung der Demokratie, gerade auf der europäischen Ebene. In Italien stellen sie die Regierung, in Schweden sind sie Zünglein an der Waage, in Großbritannien führten sie zum Brexit und in Osteuropa formiert sich eine breite Opposition gegen Brüssel. In den entscheidenden Ländern, Deutschland und Frankreich, spitzt sich die Auseinandersetzung um Identität und Souveränität zu, das System Merkel wankt und das System Macron überfordert das Volk mit seinem Blendwerk an zu vielen unvollendeten Reformen und der Selbstherrlichkeit des republikanischen Monarchen. Die Gewaltenteilung und damit die Demokratie in Europa stehen absehbar auf der Kippe. Hinzu kommt die Schwächung der Vierten Gewalt, sei es durch Selbstgleichschaltung an eine veröffentlichte Meinung, die die Vielfalt und den Austausch der Argumente ausschaltet, sei es durch juristische Maßnahmen wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das die Meinungsfreiheit stranguliert, Zensur ermöglicht und gegen das am 28. September Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben wurde. Wenn die Nationen in Europa nicht zu einer Rechtsstaatlichkeit zurückfinden, die der Mehrheit, aber auch dem Naturrecht und schließlich auch der Vierten Gewalt den zustehenden Platz einräumt, dann wird es nicht mehr viel mit der Demokratie in der EU – egal wer regiert.