Von Stefan Luft
„Dieses Gesetz dient der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland.“ Von diesem selbstgesetzten Anspruch im ersten Paragrafen des Aufenthaltsgesetzes entfernt sich die deutsche Politik zusehends. Der Anspruch, zwischen jenen zu unterscheiden, die kommen dürfen und jenen, die nicht kommen (und vor allem: nicht bleiben) sollen, gerät immer mehr zur Farce. Generell gilt: Liberale Staaten tun sich sehr schwer, eine konsistente Zuwanderungspolitik zu betreiben. Sie unterliegen zahlreichen Handlungsrestriktionen und den Einflüssen starker Interessengruppen.
Einschränkend wirkt sich zuallererst die Verrechtlichung dieses Politikfeldes aus. Jahrzehntelang war die Ausländerpolitik in Deutschland durch die Handlungsabstinenz des Gesetzgebers gekennzeichnet – die Gerichte prägten durch Richterrecht die Materie. Sie trugen zur hohen Komplexität und Unüberschaubarkeit in diesem Rechtsgebiet und damit auch zur Ineffizienz des Asylsystems bei. Normen des internationalen Flüchtlingsschutzes (wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Charta der Grundrechte der EU) hegen die Nationalstaaten in ihrer Handlungsautonomie ein – nicht zuletzt als eine Reaktion auf die weltweiten Katastrophen im 20. Jahrhundert. Die Europäisierung der Migrationspolitik, die in der Verabschiedung der zweiten Stufe des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) im Jahr 2013 ihren vorläufigen Abschluss fand, hat die Steuerungsmöglichkeiten der nationalen Gesetzgeber und Gerichte überdies stark eingeschränkt. Einen enormen Einflussgewinn verzeichnen auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Insbesondere der EuGH gilt mittlerweile als Schlüsselakteur, der sich durch richterliche Rechtsfortbildung als Motor des europäischen Integrationsprozesses versteht.[i]Er hat die Handlungsfähigkeiten der Mitgliedstaaten und der Agenturen der Europäischen Union in den vergangenen Jahren massiv eingeschränkt. Das gilt sowohl für das Dublin-Verfahren als auch für den Handlungsspielraum außerhalb des Hoheitsgebiets der EU. In der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik nimmt der EuGH Weichenstellungen für die Politik der EU vor. Dass damit den Mitgliedsstaaten „eine zentrale Frage der Gestaltung humanitärer Aufnahmepflichten demokratischer Entscheidungsfindung“ entzogen wird, „ohne dass auch nur ansatzweise eine demokratische Legitimation der Entscheidung ersichtlich ist“[ii], ist allerdings die Kehrseite.
Transparente Regeln und gute Gesetze sind das eine – die Implementierung dieser Gesetze, Verordnungen etc. das andere. In den postsozialistischen Transformationsstaaten mussten und müssen erst leistungsfähige Verwaltungen aufgebaut werden. Die griechischen Institutionen zum Flüchtlingsschutz bekamen 2011 vom EuGH „systemische Mängel“ attestiert, womit das Land seitdem nicht mehr als „sicherer Drittstaat“ gilt, in den nach den Dublin-Bestimmungen zurückgeführt werden kann. In Deutschland vollziehen immer weniger Länder und Gemeinden geltendes Asyl- und Ausländerrecht. Das kann mehrere Ursachen haben: die Überregulierung des Ausländerrechts, eine unzureichende Personalausstattung der zuständigen Behörden (Ausländerämter, Verwaltungsgerichte) sowie mangelnder politischer Wille, die Ausreisepflicht auch gegen Kritik in den Medien und durch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen durchzusetzen. Die gegenwärtige Lage ist dadurch gekennzeichnet, „dass man sich mit der Anwendung des überkomplexen Aufenthaltsrechts in einem ausgefeilten rechtsstaatlichen Verfahren mit personell unterbesetzten Verwaltungen, endlosen Gerichtsverfahren und einem schwindenden Vollzugswillen am Rande des Systeminfarkts bewegt.“[iii]
Die Wahrscheinlichkeit, selbst bei abgelehntem Antrag längere Zeit bleiben und diese Zeit für die eigenen Ziele nutzen zu können, ist recht hoch, und das wiederum ist ein Anreiz, es doch mit einer Einreise nach Deutschland zu versuchen.[iv]„Ohne das Kalkül des Bleibens wäre der Zustrom zweckfremd handelnder Asylmigranten geringer, denn diese würden davon ausgehen, dass sie unmittelbar nach Abschluss ihres Verfahrens in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen und somit weniger Zeit zur Realisierung ihrer irregulären Zwecke haben. Dadurch würde aber die Attraktivität des gesamten Migrationsprojektes sinken.“[v].
Das gilt auch für die Kalkulation der Schleuser, die nur dann stimmt, wenn der von ihnen nach Deutschland gebrachte Zuwanderer nicht oder erst nach möglichst langer Zeit das Land wieder verlässt. „Schleuser und die hinter ihnen stehenden weltweit operierenden Organisationen haben ein großes Interesse daran, dass die von ihnen eingeschleusten Personen möglichst lange im Zielland bleiben. Baldige oder erzwungene Rückführungen sind geschäftsschädigend und machen es den Ausländern unmöglich, weiter Geld zu erwirtschaften, das häufig auch zur Abzahlung gestundeter Schleuserkosten benötigt wird. Schöpft der Rechtsstaat nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel aus, eine Ausreisepflicht notfalls auch mit Zwang durchzusetzen, kapituliert er vor dieser Form der organisierten Kriminalität“.[vi]
Zu den gesellschaftlichen Akteuren, die wesentlichen Einfluss auf das Politikfeld ausüben, sind an erster Stelle die Arbeitgeber und deren Verbände zu nennen – neben Parteien, Medien, Wohlfahrtsorganisationen und Kirchen. Arbeitskräfteknappheit schwächt die Verhandlungsposition der Wirtschaft. Das gilt für Arbeitsbedingungen ebenso wie für die Entlohnung. Immer wieder weist die Arbeitsmarktforschung darauf hin, dass es zwar regionale und branchenabhängige Engpässe gibt, aber keineswegs von einer „gesamtwirtschaftlichen Engpass- oder Mangelsituation“ auf dem Arbeitsmarkt gesprochen werden kann.“[vii] Von „Vollbeschäftigung“ ist Deutschland aber noch weit entfernt. Unabhängig davon gehört es zum weitgehenden politischen Konsens, dass es einen allgemeinen Fachkräftemangel gäbe. Die Politik hat darauf reagiert und den Zugang von Asylbewerbern und Geduldeten zum Arbeitsmarkt in den zurückliegenden Jahren kontinuierlich erleichtert.[viii] So gilt ein Arbeitsverbot für Asylbewerber nicht mehr für fünf Jahre sondern nur noch für drei Monate. Auch der Zeitraum, in dem geprüft werden muss, ob ein bevorrechtigter deutscher Staatsangehöriger oder EU-Bürger als Arbeitskraft zur Verfügung steht, ist auf 15 Monate reduziert worden (bei Hochqualifizierten entfällt die Vorrangprüfung bereits nach drei Monaten). Den Arbeitgebern geht das nicht weit genug. Sie fordern: „Es sollte grundsätzlich ein uneingeschränkter Arbeitsmarktzugang für Geduldete ohne Arbeitsverbot ab Erteilung der Duldung und für Asylsuchende nach sechs Monaten Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet ohne Vorrangprüfung erlaubt werden.“[ix] Zudem soll ein Pfadwechsel ermöglicht werden: Abgelehnten Asylbewerbern, die für den Arbeitsmarkt geeignet sind, sollte der Zugang zum Arbeitsmarkt eröffnet und damit ein Bleiberecht ermöglicht werden. Mit diesen Forderungen, die politisch breit diskutiert werden, werden klare Signale gesandt: Selbst wer keinen Flüchtlingsschutz erhält und ausreisepflichtig ist, kann sich dennoch eine Bleibeperspektive versprechen.
Vor diesem Hintergrund darf sich niemand wundern, wenn der Wanderungsdruck auf die Bundesrepublik Deutschland weiter wachsen wird.
[i] Mit weiteren Nachweisen: Luft, Stefan (2014): Die Europäisierung der Asyl- und Flüchtlingspolitik, in: Stefan Luft/ Peter Schimany (Hrsg.): 20 Jahre Asylkompromiss. Bilanz und Perspektiven, Bielefeld, S. 242-273.
[ii]Hailbronner, Kay (2013): Deutsche Ausländer, Gastarbeiter, Flüchtlinge, Migranten, ausländische Mitbürger – Überlegungen zur Entwicklung der Menschenrecht e im Ausländerrecht, in: Breuer, Martin et al. (Hrsg.): Der Staat im Recht. FS für Eckart Klein, Berlin, S. 1078.
[iii] Klos, Christian (2013): Ausländerrecht vor dem Infarkt. Ein rechtspolitisches Menetekel, in: Georg Jochum/Wolfgang Fritzemeyer/Marcel Kau (Hrsg.), Grenzüberschreitendes Recht – Crossing Frontiers. Festschrift für Kay Hailbronner, Heidelberg–München 2013, S. 135.
[iv] Hailbronner, Kay (2015): Nur schnelle Abschiebungen retten das Asylrecht, in: Die Welt vom 31.08.2015
[v]Müller-Schneider, Thomas (2000):, Zuwanderung in westliche Gesellschaften. Analyse und Steuerungsoptionen, Opladen, S. 209.
[vi]Zuwanderung gestalten. Integration fördern. Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, Berlin 2011, S. 151.
[vii] Zentrale Befunde zu aktuellen Arbeitsmarktthemen (Aktuelle Berichte des Instituts für Arbeitsmarkt- und berufsforschung), Januar 2014, S. 14.
[viii] Thränhardt, Dietrich (2015): Die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland. Humanität, Effektivität und Selbstbestimmung. Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, S. 6f.
[ix] Arbeitsmarktpotentiale von Asylsuchenden und Geduldeten zukunftsorientiert nutzen. Positionspapier der Bundesvereinigung der Arbeitsgeberverbände vom 12. Juni 2015, S. 1.
Staat und Migration. Zur Steuerbarkeit von Zuwanderung und Integration, Frankfurt/Main 2009; Stefan Luft/Peter Schimany (Hg.): Integration von Zuwanderern. Erfahrungen, Konzepte, Perspektiven, Bielefeld 2010; Luft/Schimany (Hg.): 20 Jahre Asylkompromiss. Bilanz und Perspektiven. Bielefeld 2014.
Weitere Informationen unter: http://www.stefanluft.de/