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Aufsatz des Monats

Der Lebensmut steigt: Über eine neue Form des Zusammenlebens zwischen Jung und Alt

By 14. März 2016März 3rd, 2022No Comments

Die Alterung in Deutschland, die nachweislich auch durch Zuwanderung nicht aufgehalten werden kann, erfordert neue Formen des Zusammenlebens. Die „Generationsbrücke“ ist eine. Es handelt sich um ein Sozialunternehmen, das Alt und Jung verbindet. Senioren und Kinder kommen zusammen – regelmäßig und verbindlich; sie spielen miteinander, lachen gemeinsam und lernen voneinander. Die Generationsbrücke Deutschland gibt es mittlerweile in acht Bundesländern und in über 40 Alten- und Pflegeheimen – ein weiterer Ausbau ist geplant, immerhin zählt  Deutschland rund 13.000 Altenheime. Der Berliner Journalist Rocco Thiede hat über die Generationsbrücke jetzt ein Buch geschrieben – und für iDAF folgende Passagen.

 

Heimleiter Stephan Schirmel ist engagierter Christ und arbeitet seit zwei Jahrzehnten im Marienheim bei Aachen. Das Alten- und Pflegeheim war der erste Kooperationspartner der Generationsbrücke. „Ich sitze hier fast wie auf einem Präsentierteller“, sagt Stephan Schirmel zur Begrüßung. „Für Kontrollfreaks mag das ja ideal sein“, aber manches Mal wünsche er sich mehr Ruhe, denn jeder Besucher oder Mitarbeiter, der das Marienheim betritt oder verlässt, passiert zwangsläufig die Tür seines Büros. Stephan Schirmel ist 48 Jahre alt, trägt seine braunen Haare kurz und hat ein hellblaues Hemd zu Bluejeans an.

Gleich am Eingang seines Büros hängen eine Kalligraphie und ein Foto von drei älteren Damen auf einer Schaukel. „Jung sein!“ lauten angeblich die Worte des römischen Kaisers Marc Aurel in einer Rede vor seinen Soldaten, die er als Aufruf zur Entdeckung ihrer eigenen, ewigen Jugend gehalten haben soll. „Die Jugend kennzeichnet  nicht einen Lebensabschnitt, sondern eine Geisteshaltung“, so beginnt Marc Aurel seine Aufforderung. Eine Freundin von Stephan Schirmel hat die Rede in schöner Handschrift auf Büttenpapier geschrieben und die Kalligraphie passt gut in das Büro eines Pflegeheimleiters. Auch das selbstgeschossene Foto von den Damen auf der Schaukel, an dessen Rand ein Rollstuhl steht, harmoniert mit seiner Symbolik gut mit dem Text. Es zeigt die Freuden des Alters und steht idealtypisch für das, was man sich in den Heimen für alte und betagte Menschen in unserem Land wünscht. Das Foto sei, so Stephan Schirmel, ein Beweis dafür, wie man sich im Alter jung fühlen und seine Beschwerden in schönen Momenten vergessen kann.

Dass zur Arbeit in Alten- und Pflegeheimen der Tod gehört, befremdet ihn nicht: „Ich habe aufgrund meines Glaubens die feste Hoffnung, dass das Leben nach dem Tod weitergeht.“ Schon aus diesem Grund kann er mit Themen wie Sterben und Tod gut umgehen. Den Prozess des Sterbens möchte er für die Bewohner als einen gut begleiteten, wenn möglich nach ihren Wünschen, verstanden wissen. Seiner Meinung nach werden die künftigen Pflegeheime eine Symbiose aus Palliativmedizin und Hospizen bilden. Schon heute kooperiert er mit ehrenamtlichen Hospizbetreuern, „die in den letzten Lebensstunden bei den Betroffenen am Bett sitzen und ihnen beistehen“. Unterstützt werden sie im Marienheim von einer Hausseelsorgerin, die das Bistum stellt. Ohne die 40 ehrenamtlichen Helfer wären viele Angebote im Heim nicht möglich. Inzwischen melden sich auch verstärkt Schüler der 12. Klasse, die gerne ehrenamtlich helfen wollen. „Aber wir sparen durch die ehrenamtlichen keine hauptamtlichen Mitarbeiter ein“, betont Stephan Schirmel. Er finde es ethisch verwerflich, mit dem Alter und der Pflege von Menschen Profitgeschäfte zu machen. „Natürlich müssen auch wir auf Kennzahlen achten, aber wir haben mehr Freiheiten als privatwirtschaftliche Träger“.

Begonnen hat der studierte Sozialpädagoge seinen Sozialdienst im Heim 1995. Nach Einführung der Pflegeversicherung konnte das Team des Sozialen Dienstes im Marienheim ausgebaut werden. „Als ich hier begann, gab es 1,8 Planstellen für unsere Bewohner – heute sind es fünf Planstellen mit 11 Mitarbeitern“. Einige von ihnen sind „Alltagsbegleiter“ – ein neues Berufsbild, das dem Heim sieben zusätzliche Betreuungskräfte bescherte. Jeder von ihnen ist für zwölf bis 15 Bewohner verantwortlich. „Eine genaue Zeitvorgabe gibt es bei uns nicht“, erklärt Stephan Schirmel, „sondern es gilt verbindlich die eine Regel, dass der Alltagsbegleiter seine Bewohner mindestens einmal am Tag gesehen und besucht haben muss“. Dies ist in den Betreuungsregeln festgelegt.

Horst Krumbach, den Initiator der Generationsbrücke in Deutschland, kennt er seit fast zwanzig Jahren. Viele Jahre war er dessen Stellvertreter im Heim und als Horst Krumbach den Stiftungsvorstand sowie die Geschäftsführung der Generationsbrücke übernahm, rückte Stephan Schirmel als Heimleiter an die Spitze des Marienheims. Es ist ein klassischer Managerjob, der allwöchentlich viele Abstimmungen und monatliche Routinen erfordert. Seit 2010 ist das Marienheim Teil der „Katholischen Stiftung Marienheim Aachen-Brand“. Im Heim gibt es zwischen 20 und 30 Angebote für die Bewohner, dazu gehört auch die Generationsbrücke. Sie sei aber kein normales Event, erzählt Stephan Schirmel, sondern eine besondere Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Kindern und alten Menschen im Heim, die planvoll und verbindlich über einen längeren Zeitraum läuft. Nur hier gäbe es die Freude auf das Wiedersehen bei den Jungen und Alten mit dem langfristigen Effekt, dass der Lebensmut bei den Heimbewohnern signifikant steigt. „Das ist die Stärke des Konzeptes, das mit keinem der anderen Angebote zu vergleichen ist.“

Ermöglicht werde dies durch den hohen Organisationsgrad innerhalb der Generationsbrücke sowie die klare Kommunikation mit allen Beteiligten: „An erster Stelle kommt die Generationsbrücke und dann alles andere. So wird beispielsweise nicht der Friseurbesuch den Begegnungen vorgezogen, wenn beides auf einen Donnerstag fällt.“  Bewohnern und Mitarbeitern müsse klar sein, dass die Kinder nicht enttäuscht werden sollten, „da auch sie sich auf die Begegnungen vorbereitet haben und darauf freuen“.

Es ist nun fast zehn Jahre her, dass Horst Krumbach mit seiner Idee aus den USA zurückkam. „Vorher habe ich ihn etwas erschöpft, ja fast ausgebrannt erlebt“, berichtet Stephan Schirmel. „Aber als er uns seine Bilder und Vorstellungen aus Amerika präsentierte, war er ganz verändert und wirkte voll neuer Energie. Ich dachte so bei mir, prima, der Akku ist wieder voll.“ Aber bei der Begeisterung des damaligen Heimleiters blieb es nicht, denn Horst Krumbach gelang es, seine Kollegen mitzureißen: „Das war regelrecht ansteckend. Es kann doch eigentlich keine schöneren Ziele für ein Pflegeheim geben, als zu versuchen den alten Menschen regelmäßig glückliche Momente zu schenken.“ Horst Krumbach prüfte das Konzept für den Transfer nach Deutschland. Mit dem Marienheim ergab sich eine idealtypische Situation. Denn in der Nachbarschaft liegt die Kita St. Monika. Mit dem katholischen Kindergarten als Partner unterschied man sich vom amerikanischen Modell, wo bis heute ausschließlich Schulkinder die alten Menschen in den Heimen besuchen. „Mit Kindergartenkindern im Vorschulalter lässt sich die Generationsbrücke auch einfacher organisieren“, meint Stephan Schirmel, „da muss in der Vorbereitung nicht auf eine festen Stundenplan Rücksicht genommen werden“.

Außerdem hatten das Marienheim und die Kita damals einen gemeinsamen Träger, „da stellte sich nicht die Frage, ob sondern ausschließlich wie etwas geschieht“. Die Kontakte zwischen beiden Einrichtungen waren seit Jahren sehr gut und es gab einen regelmäßigen Austausch, wenn etwa Erntedank oder St. Martin gemeinsam gefeiert wurde. „Wir waren gewissermaßen Experimentier- und Entwicklungsfeld, auf dem das Konzept der Generationsbrücke erst modelliert und dann präsentiert wurde“, hält der Heimleiter fest. „Seitdem kamen viele Menschen in unser Haus. Die politischen Verantwortlichen gaben sich manchmal im Wochenrhythmus die Klinke in die Hand. Manchmal hatte ich schon die Befürchtung, es werde unseren Bewohner langsam zu viel, wenn ihnen immer wieder ein Mikrophon unter die Nase gehalten wurde oder Kamerateams das Gebäude scheinbar belagerten. Aber das war nicht so, unsere älteren Menschen fühlten sich hier nicht vorgeführt, sondern durch die Anwesenheit von Politik und Medien geschmeichelt. Viele waren für die Abwechslung dankbar und einige äußerten dies auch, weil sie merkten in einem besonderen Heim mit einem besonderen Angebot wie der Generationsbrücke zu wohnen.“

Stephan Schirmel sieht in der Kooperation noch ungehobene Potenziale. „Ich würde mir wünschen, dass sich Lehrer und Erzieher noch stärker in die Umsetzung des Konzeptes einbringen“, sagt er. Auch hat er eine langfristige, gesellschaftlich-politische Vision: „Wäre es nicht möglich, dass wir in Deutschland zukünftig viel mehr Altenheime und Kindergärten unter einem Dach führen?“, fragt Stephan Schirmel. Dann wäre der intergenerative Ansatz dauerhaft etabliert, den heute die Generationsbrücke zwar regelmäßig, aber dennoch punktuell und zeitlich begrenzt, durchführt.

Als ich das Büro von Stefan Schirmel verlasse, schaue ich noch einmal auf das faszinierende Foto mit den schaukelnden, sich freuenden, alten Frauen. Eigentlich sind sie gar nicht so alt, denke ich bei mir. Denn was ist schon das Alter, wenn man es mit den Worten des römischen Kaisers und Denkers Marc Aurel denkt: „Man wird nicht alt, weil man eine gewisse Anzahl Jahre gelebt hat: Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt.“ Diese Worte empfehlen sich wohl für jeden, der mit und für ältere Menschen arbeitet. Es lohnt sich, den Appel des Philosophenkaisers in Kopf und Herz zu bewegen.

 

Jung sein!

Die Jugend kennzeichnet nicht einen Lebensabschnitt,
sondern eine Geisteshaltung;
sie ist Ausdruck des Willens,
der Vorstellungskraft und der Gefühlsintensität.
Sie bedeutet Sieg des Mutes über die Mutlosigkeit,
Sieg der Abenteuerlust über den Hang zur Bequemlichkeit.

Man wird nicht alt, weil man
eine gewisse Anzahl Jahre gelebt hat:
Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt.
Die Jahre zeichnen zwar die Haut
– Ideale aufgeben aber zeichnet die Seele.
Vorurteile, Zweifel, Befürchtungen
und Hoffnungslosigkeit sind Feinde,
die uns nach und nach zur Erde niederdrücken
und uns vor dem Tod zu Staub werden lassen.

Jung ist, wer noch staunen und sich begeistern kann.
Wer noch wie ein unersättliches Kind fragt: Und dann?
Wer die Ereignisse herausfordert
und sich freut am Spiel des Lebens.

Ihr seid so jung wie Euer Glaube.
So alt wie Eure Zweifel.
So jung wie Euer Selbstvertrauen.
So jung wie Eure Hoffnung.
So alt wie Eure Niedergeschlagenheit.

Ihr werdet jung bleiben,
solange Ihr aufnahmebereit bleibt:
Empfänglich fürs Schöne, Gute und Große,
empfänglich für die Botschaften der Natur,
der Mitmenschen, des Unfasslichen.
Sollte eines Tages Euer Herz
geätzt werden von Pessimismus,
zernagt von Zynismus,
dann möge man Erbarmen haben
mit Eurer Seele – der Seele eines Greises.

 

Buchhinweis:

https://www.herder.de/leben-shop/generationsbruecke-gebundene-ausgabe/c-28/p-5735/