Skip to main content
Aufsatz des Monats

Das Märchen vom Aufwärtstrend der Geburtenrate (1)

By 7. September 2014März 3rd, 2022No Comments
Von Herwig Birg

Die Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen macht seit Jahrzehnten in nahezu allen Ländern der Welt immer die gleiche Beobachtung: Die Geburtenrate eines Landes ist umso niedriger, je höher der Entwicklungsstand ist und je rascher Wirtschaft und Gesellschaft sich weiterentwickeln. Doch in verschiedenen, international vergleichenden Studien wird die These vertreten, dass der paradoxe gegenläufige Zusammenhang in den weitaus meisten Ländern der Welt zwar nach wie vor besteht, dass aber neuerdings in einer kleinen Gruppe hochentwickelter Länder wie Deutschland das demographisch- ökonomische Paradoxon nicht mehr gilt und durch den umgekehrten Zusammenhang abgelöst wurde: In diesen Ländern ist die Geburtenrate, so die These, nicht mehr umso kleiner, sondern umso größer, je höher das erreichte wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungsniveau des Landes ist.

In diesen Studien wird der Entwicklungsstand eines Landes mit dem so genannten „Human Development Index“ (HDI) gemessen. Der HDI ist ein aus ökonomischen und gesellschaftlichen Kennziffern zusammengesetztes Maß, mit dem das Entwicklungsniveau eines Landes auf einer Skala von Null (= wenig entwickelt) bis eins (= hochent-wickelt) ausgedrückt wird. Die These lautet: Die Geburtenrate sei in Deutschland und in einigen anderen Ländern seit kurzem angestiegen, verursacht durch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt, der im Anstieg des HDI zum Ausdruck kommt.

Als Maß für die Geburtenrate wird die Total Fertility Rate (TFR) herangezogen. Dabei ist den betreffenden Autoren bewusst, dass die TFR, wie oben erläutert (Abschnitt 3.2), als Maß für die Geburtenrate eines Landes wenig geeignet ist, weil in ihr neben den schon geborenen und damit registrierbaren auch die noch nicht geborenen, aber in den kommenden Jahren zu erwartenden Geburten der in dem entsprechenden Kalenderjahr noch jüngeren Frauen berücksichtigt werden, was nur durch eine Prognose bewerkstelligt werden kann. Die diesbezüglichen Prognosen der Statistischen Ämter stützen sich meistens auf die Annahme, dass die noch jüngeren Frauen die gleichen altersspezifischen Geburtenziffern haben werden wie die jetzt schon bekannten der  älteren Frauenjahrgänge. Die Statistischen Ämter stellen bei der Messung der TFR also nicht nur fest, wie viele Geburten tatsächlich registriert wurden, sondern sie nehmen mit der Meßmethode der TFR einen Teil der Geburten prognostisch vorweg. Dabei ist die Qualität der Prognose wie immer identisch mit der Qualität der Annahmen, auf der sie beruht.

Von manchen Anwendern der TFR wird behauptet, die Kinderzahl pro Frau in Deutschland sei in Wahrheit höher als es vom Statistischen Bundesamt in den amtlichen Zahlen der TFR angezeigt wird, und zwar aus zwei Gründen: Erstens habe sich das mittlere Gebäralter von Jahrgang zu Jahrgang auf ein höheres Lebensalter verschoben, deshalb könnten zweitens die aufgeschobenen Geburten in der TFR nicht berücksichtigt worden sein. Grund: Die TFR beziehe sich immer auf ein bestimmtes Kalenderjahr, in dem die noch nicht Geborenen naturgemäß nicht registriert werden können. Nach dieser These würden die auf eine spätere Lebensphase aufgeschobenen Geburten, wenn die entsprechenden Kinder dann zur Welt kommen, die TFR und die Geburtenzahl wieder ansteigen lassen (so genannter „Timing-Effekt“, s. Abschnitt 3.2).

Der erste Grund trifft zweifellos zu – die Verschiebungen des mittleren Gebäralters von früher unter 25 Jahren auf heute über 30 wurden auch von den Demographen in Deutschland und vom Statistischen Bundesamt seit Jahrzehnten detailliert analysiert und in zahllosen Untersuchungen publiziert. Aber der zweite Grund ist falsch, denn die aufgeschobenen Geburten lassen sich bei den Berechnungen der TFR, die ja über das jeweilige Kalenderjahr hinausreichende Geburtenprognosen enthalten, durchaus berücksichtigen.

Zu diesem in der deutschen Fachdemographie seit langem breit diskutierten Sachverhalt lässt sich rückblickend und zusammenfassend feststellen: Wäre die These richtig, dass die Geburtenrate durch die aufschiebende Geburtenplanung in Wahrheit höher ist als von der TFR angezeigt, hätte die TFR schon lange wieder zunehmen müssen, denn das mittlere Gebäralter steigt in Deutschland schon seit Jahrzehnten. Die Kinder, deren Geburt beispielsweise im Jahr 1980 von den damals 25jährigen Frauen aufgeschoben wurde, hätten spätestens 10 bis 20 Jahre später, also im Zeitraum 1990 bis 2000 zur Welt kommen und einen Anstieg der TFR bewirken müssen. Ein solcher Anstieg war aber nicht zu beobachten.

Im subjektiven Empfinden der Frauen (und Männer) sind die Geburten vielleicht nur aufgeschoben. Aber nicht alle aufgeschobenen Ziele werden später verwirklicht, deshalb ist ein mehr oder weniger großer Teil der geplanten Geburten in Wirklichkeit nicht nur aufgeschoben, sondern aufgehoben. Das  Statistische Bundesamt hat hierzu eine spezielle Untersuchung durchgeführt und festgestellt, dass mindestens 40 Prozent der aufgeschobenen Geburten später nicht nachgeholt wurden.(2)

Die tatsächlichen Zahlen der TFR zeigen für Deutschland seit Jahrzehnten keinerlei Anstieg, auch nicht in jüngster Zeit. Vielmehr schwankte die TFR in der früheren Bundesrepublik seit 1975 bis heute in dem Intervall zwischen 1,2 und 1,4 Lebendgeborenen pro Frau. In der früheren DDR verlief die Entwicklung bis 1972 parallel zu der im Westen, danach stieg die TFR durch die geburtenfördernde Politik in der DDR von 1972 bis 1980 auf rd. 1,8, gefolgt von einem stetigen Rückgang in den 80iger Jahren, bis sie im Jahr 1994 ein historisches Minimum von 0,78 erreichte. Von diesem Minimum aus stieg die Geburtenrate allmählich auf ein Niveau, das seit 2008 das Niveau in den alten Bundesländern leicht überschreitet, weil viele der gut qualifizierten jungen Frauen, die wenig oder keine Kinder planen, aus beruflichen Gründen in den Westen gezogen sind.

Fazit: In ganz Deutschland schwankte die TFR zwischen 1,5 im Jahr der Wiedervereinigung und 1,2 im Jahr 1994. Die Bandbreite dieser Schwankungen ist eng, so dass die Behauptung eines Anstiegs der TFR durch die Daten der Amtlichen Statistik klar widerlegt wird.


(1) Dieses Kapitel ist die überarbeitete Fassung meiner Rezension der folgenden Aufsätze in Nature: a) Mikko Myrskylä, Hans-Peter Kohler u. Francesco C. Billari, „Advances in development reverse fertility declines“, in: Nature, Vol. 460, 6. August 2009, S. 741-743, und b) Shripad Tuljapurkar, “Babies make a comeback”, S. 693-694 in der gleichen Ausgabe von Nature. S. Herwig Birg, „Bevölkerungsforschung Aktuell“, Herausgegeben vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB), Wiesbaden, März 2010. Ähnliche Thesen wie die in den rezensierten Aufsätzen sind in folgender Untersuchung erschienen: Myrskylä M; Goldstein J R ; Cheng Y A (March 2013) New Cohort Fertility Forecasts for the Developed World: Rises, Falls, and Reversals. In: Population and Development Review: 31-56.

(2) Pötzsch O (2013) Wie wirkt sich der Geburtenaufschub auf die Kohortenfertilität in West und Ost aus? Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Wirtschaft und Statistik: 87-102.

Bei vorliegendem Aufsatz handelt es sich um einen Auszug aus dem neuen Buch von Professor Herwig Birg, „Die demografische Zukunft Deutschlands und die Politik“,  das im Herbst im LIT-Verlag in Berlin erscheint. Wir veröffentlichen den Auszug vorab mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag, denen wir dafür herzlich danken. Der Auszug selbst ist Teil eines Kapitels, das wir in Gänze in der Rubrik Leseempfehlung aufbereitet haben.