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Aufsatz des Monats

Auch Männer haben eine Seele!

By 22. Januar 2016März 3rd, 2022No Comments

Ein umfassendes Buch über die seelische Gesundheit von Männern und Jungen mit Lösungsvorschlägen

Von Matthias Franz und André Karger

Psychotherapeutische Praxen und Kliniken sind so etwas wie gesellschaftliche Frühwarnsensoren für die Haarrisse zwischen individuellem Leid und kollektiven Normierungsprozessen. Therapeutinnen und Therapeuten spüren in der Vertraulichkeit ihrer Arbeit schon länger, dass auch Männer unter den Anforderungen des immer noch wirkmächtigen traditionellen männlichen Rollenbildes leiden – und dass sie beginnen, sich im Gespräch zu öffnen und sich in ihrer Bedürftigkeit zu zeigen. Seit etwa zehn Jahren besteht auch in der Öffentlichkeit ein zunehmendes, wenn auch oft kontroverses Interesse an Männerthemen, an der Männerrolle und den mit ihr verbundenen Herausforderungen und Risiken.

Dieser Trend ist inzwischen in eine breite gesellschaftliche Diskussion um den Mann und unsere Männerbilder übergegangen. Und wie so oft, wenn es um Identitätsfragen geht, werden in dieser Diskussion wissenschaftliche Fakten und Befunde nicht immer sofort wahrgenommen. Unser Buch greift deshalb das umstrittene Männerthema aus wissenschaftlicher Sicht auf. Es beschäftigt sich mit der sozialen Konstruktion der Männerrolle und am Beispiel der seelischen Gesundheit von Männern und Jungen mit den erheblichen Risiken, die mit ihr verknüpft sind. Denn: Auch Männer haben eine Seele! Das ist kein larmoyanter Vorwurf an die feministische Adresse, sondern eine dringend notwendige Erinnerung, die sich an die Männer richtet, die immer noch viel zu oft unter Verleugnung ihrer seelisch-emotionalen Bedürfnisse mit rollenkonformer, schweigsamer Härte gegen sich und andere so tun als ob alles in Ordnung wäre – obwohl es schon lange brennt.

Peter Schneider analysiert in seinem einleitenden Beitrag zunächst die Mechanismen der sozialen Konstruktion und Funktionalität psychopathologischer Kategorien von Männlichkeit am Beispiel der Homosexualität, die vor hundert Jahren noch als Devianz galt, mittlerweile den heterosexuellen Beziehungen weitgehend gleichgestellt ist. Soziale Konstruktionsprozesse sind nicht nur für die Definition von Krankheiten bedeutsam, sie definieren das, was als männlich zu gelten hat. Walter Holstein beschreibt beispielsweise seit langem den in den letzten Jahrzehnten und sich abschwächend bis heute stattfindenden Prozess der projektiven Devaluierung von Männlichkeit. Als gesellschaftliche Folgen benennt er – unter Rückgriff auf empirische Daten – Identitätsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, depressive Symptome, die Zunahme männlicher Suizide (bei gleichzeitiger Reduktion der weiblichen), Vandalismus, Gewalt oder die Körperkrise von – vor allem – jüngeren Männern. Er stellt eindringlich die Frage nach einer „Rekonstruktion von Männlichkeit“ und was für unsere heutige Zeit Männlichkeit bedeutet und sein kann. Auch der Männergesundheitsbericht 2013 der Stiftung Männergesundheit sieht Anzeichen dafür, dass psychische Erkrankungen bei Männern ansteigen – mit deutlichen gesundheitsökonomischen Folgen für  Arbeitsunfähigkeit und betriebliche Fehltage. Angesichts der im Vergleich zu Frauen bei uns deutlich höheren Vollerwerbsquote von Männern ist beruflicher Stress ein Thema besonders für die Gesundheit von Männern – wie Belastung durch Familienarbeit immer noch ein vorwiegend weiblich besetztes Thema ist.

In den Ländern der EU existiert ein bemerkenswert starker Zusammenhang zwischen dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) und der Vollerwerbsquote von Frauen: Je höher das BIP pro Kopf, umso niedriger die Vollerwerbsquote der Frauen. Je ärmer ein Land, umso höher die Vollerwerbsquote der Frauen. Im Mittel beträgt die Vollerwerbsquote bei Frauen in Europa 68,4 %, in Deutschland 54,2 %. Das sieht für die Männer noch anders aus. Gleichgültig wie reich oder wie arm ein Land ist, die Quote für Vollzeitberufstätigkeit beträgt bei den Männern etwa 90 %. Das gilt auch und besonders für Väter. Bei ihnen liegt die Vollerwerbsquote in Deutschland bei 95 Prozent, bei den Müttern etwa bei 30 Prozent[1]. Aus diesen arbeitsweltlichen Konstellationen können psychosomatische und psychische Belastungen auch für Männer erwachsen.

Zwei Beiträge dieses Buches beleuchten deshalb arbeitsweltliche Einflüsse auf die Gesundheit und die psychische Beeinträchtigung von Männern. Peter Angerer zeigt auf, dass die Empfindlichkeit gegenüber Stress bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt ist. Männer reagieren z.B. unter experimentellen Bedingungen mit stärkeren körperlichen Stressanzeichen, während Frauen stärker emotional reagieren, etwa mit Angst oder Trauer. Männer reagieren aber auch anders auf Arbeitsstress. Weitere Untersuchungen zeigen, dass für Frauen qualitative, wie beispielsweise emotionale und intellektuelle Aspekte der Arbeit wichtig sind, bei Männern hingegen scheinen quantitative Merkmale stressrelevanter zu sein. Andererseits erfolgt auch die Bewertung der Arbeit durch Männer und Frauen nach unterschiedlichen Kriterien: Während für Frauen Team, Kommunikation, Kooperation und Fairness wichtige Aspekte darstellen, tendieren Männer dazu Bezahlung, Macht und Status höher zu schätzen. Aufgrund dieser Beobachtungen folgert Angerer, dass Interventionen zur Verbesserung psychosozialer Arbeitsbedingungen und zur Prävention individueller Stressreaktionen auf geschlechtsspezifische Unterschiede eingehen sollten. Der Autor stellt beispielhaft ein Stressbewältungsprogramm vor, das sich ausschließlich an Männer richtet und zieht Schlussfolgerungen für eine spezifisch männliche Stressprävention.

Johannes Siegrist beschreibt in seinem Beitrag die positiven und negativen Aspekte beruflicher Arbeit, von denen Männer in modernen Gesellschaften, so auch in Deutschland, stärker betroffen sind als Frauen (höhere Erwerbstätigenquote, längere Erwerbsbiographie, höhere Prävalenz von Risikoberufen, Zentralität des Berufs für soziale Identität und Geschlechtsrolle). Er sieht vor dem Hintergrund zunehmend verkürzter Innovationszyklen und der Globalisierung neben entlastenden positiven auch negative, Stress auslösenden Auswirkungen beispielsweise aufgrund von Leistungsverdichtung und gesteigerter Instabilität und Diskontinuität von Beschäftigungsverhältnissen. Epidemiologische Studien zeigen für Männer eine insgesamt hohe arbeitsbedingte Krankheitslast. Siegrist belegt dies anhand ausgewählter neuer Befunde zu gesundheitlichen Folgen von Arbeitslosigkeit und betrieblicher Restrukturierung sowie von psychosozialen Arbeitsbelastungen. Im Zentrum stehen dabei Depressionen und Herzkreislaufkrankheiten und Risiken krankheitsbedingter Frühberentung. Aus diesen Erkenntnissen leitet der Autor spezifische praktische Folgerungen für die primäre und sekundäre Prävention ab. Exemplarisch skizziert er Erfolg versprechende Lösungsansätze. Angesichts der Notwendigkeit mit derartigen Maßnahmen auch die soziale Ungleichheit von Krankheit und frühem Tod in der männlichen Erwerbsbevölkerung zu reduzieren, fordert er eine Stärkung betrieblicher Gesundheitsförderung durch arbeits- und sozialpolitische Programme auf nationaler Ebene.

Seelisches Leid bei Männern stellt aber immer noch ein Tabuthema dar. Daran könnten auch diagnostische Rituale und rollenverzerrte Wahrnehmungsroutinen der Medizin beteiligt sein, die zu einer Unterschätzung der Häufigkeit und Ausprägung psychosozial bedingter Beschwerden bei Männern führen können[2]. Laut einer aktuellen Erhebung des Robert-Koch Institutes sind Frauen von fast allen psychischen Erkrankungen deutlich häufiger betroffen als Männer. Es gibt zwei Ausnahmen: die Alkoholerkrankung und den Suizid. Fast jeder 5. Mann hat dieser Studie zufolge Alkoholprobleme. Sie sind bei Männern viermal, Suizide schon bei Jungen und Männern etwa dreimal so häufig wie bei Mädchen und Frauen. Niemand weiß wirklich warum das so ist. Wieso eigentlich nicht?

Wenn man sich die geringeren Häufigkeiten diagnostizierter Depressionen und Angsterkrankungen bei Männern vergegenwärtigt[3], könnte man allerdings auf den Gedanken kommen, dass sich nicht wenige Männer mittels Alkohol vor der verunsichernden Wahrnehmung von Gefühlen wie Niedergeschlagenheit und Angst zu schützen versuchen. Andererseits sind Alkohol- und Drogenkonsum wesentliche Determinanten der Inszenierung und Konstruktion von traditioneller Maskulinität. Dies beschreibt Heino Stöver in seinem Beitrag. Denn der „berauschte Mann“ drogiert nicht nur seine Belastungen und Gefühle, er stellt das Phantasma der Männlichkeit auch aktiv mittels der Droge her. „Doing gender with drugs“ auch in der aktiven performativen Dimension zu verstehen, ist eine wichtige Voraussetzung für geeignete Präventions- und Therapiekonzepte.

Die Normen traditioneller Maskulinität fördern die Abwehr der Wahrnehmung von Stress und psychischen Problemen, aber auch die Inanspruchnahme von therapeutischen Hilfen. Immer noch sind zwei Drittel der Klienten in Psychotherapie weiblich. Anne Maria Möller-Lehmkühler beschreibt in ihrem Beitrag dabei die Bedeutung der männlichen Rollenbilder nicht nur für die Wahrnehmung und den Umgang mit depressiven Symptomen, sondern auch die Konstruktion der Depression. Denn die Depression wird bei Männern oft unterdiagnostiziert und deshalb unterbehandelt, weil Ärzte ihre männlichen Patienten oft gar nicht nach depressiven Beschwerden fragen und Fragebogeninstrumente bestimmte Symptommuster wie Ärgerattacken, Suchtmittelgebrauch und Irritabilität nicht angemessen abbilden. Der diagnostische Blick unterliegt einer genderspezifischen Verblindung, da  Gefühlskrankheiten weiblich ausgedeutet werden.

Auch die gesellschaftliche und gesundheitspolitische Wahrnehmung von partnerschaftlicher (häuslicher) Gewalt unterliegt einer genderspezifischen Fehlwahrnehmung. André Karger zeigt in seinem Beitrag, dass trotz entsprechender empirischer Befunde immer noch der „Mann als ewiger Gewalttäter“ gilt und  männliche  Gewaltopfererfahrung  als relevantes Problem kaum gesellschaftlich ernst genommen wird. Solche Täter-Opfer-Dichotomien verstellen den Blick auf die komplexe Dynamik von gewaltsamen Beziehungen im sozialen Nahraum und verunmöglichen einen angemessenen Umgang mit Gewaltphänomenen innerhalb der Gesellschaft.

In der Psychotherapie entwickelt sich seit etwa zwei Jahrzehnten eine erhöhte Sensibilität für die seelischen Beeinträchtigungen und Bedürfnisse von Männern und Jungen. Männlichkeitsleitbilder, Geschlechterarrangements oder die Möglichkeiten und Grenzen freundschaftlicher Verhältnisse zwischen Männern, beeinflussten in der Vergangenheit nicht bloß deren seelische Gesundheit, sondern bestimmten auch was als psychisch gesund und was als männlich galt sowie was nicht. Dies belegt Christoph Schwamm anhand qualitativer historischer Untersuchungen und erschütternder Fallbeispiele. Auf der Grundlage von Behandlungsberichten aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und dem späteren Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, verdeutlicht der Autor den heute erschreckend wirkenden Umgang mit psychisch kranken Männern noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Er zeigt wie die seelische Gesundheit von Männern und die Therapie von psychischen Störungen von den historischen Veränderungen seit dem zweiten Weltkrieg geprägt waren. Neben den veränderten Anforderungen an Männer, geht er auch auf den Wandel in Therapie und Krankheitskonzeptionen ein- sowie auf das Fortbestehen des „Rollenkäfigs“.

Heutige Zugangsmöglichkeiten zu einer männerspezifischen Psychotherapie eröffnet der Beitrag von Björn Süfke und Wolfgang Neumann. Denn Männer sind in einer Psychotherapie mit einem Dilemma konfrontiert. Effekt männlicher Sozialisiation ist gerade, dass Männer innere Konflikte im Außen, d.h. durch Externalisierung versuchen zu lösen. In einer Psychotherapie sollen sie nun Lösungen in ihrem Inneren erarbeiten, einem Zugang, der ihnen bisher erschwert war. Männer benötigen daher ein sowohl konfrontatives wie solidarisches Setting, oft auf dem Hintergrund entsprechender Identifikationsangebote ihre gleichgeschlechtlichen Therapeuten.

Wenn gleich immer noch etwa doppelt soviele Frauen psychotherapeutisch behandelt werden wie Männer, haben doch viele psychotherapeutisch tätige Kolleginnen und Kollegen den Eindruck, dass sich Männer zunehmend öffnen und über sich, ihre Belastungen und Ängste reden wollen anstatt sich als süchtige Selbstversorger zu betäuben. Aktuelle Telefonumfragen zeigen zwar, dass die Nachfrage nach Psychotherapie besonders bei jüngeren Männern und Männern im mittleren Lebensalter immer noch geringer ist als bei Frauen[4]. Allerdings konnte anhand der Daten der Mannheimer Kohortenstudie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen schon vor vielen Jahren nachgewiesen werden, dass Männer genauso häufig wie Frauen ein Psychotherapieangebot annehmen, wenn es ihnen aktiv und selbstwertprotektiv offeriert wird[5]. Entscheidend war, ob es gelang, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der es Männern möglich war, nicht nur über Beschwerden sondern auch offen über sich und ihre Beziehungsprobleme zu sprechen. Vertrauen da zu schaffen, wo zwischenmenschliche Offenheit als negativ verinnerlicht wurde, erfordert aber bei den Profis die Fähigkeit zur metakommunikativen Erfassung des rollentypisch verzerrten Symptomcodes und des Übertragungsgeschehens in der Beziehung zum Patienten. Genau diese anspruchsvolle diagnostische Leistung wird in unserem Gesundheitssystem für die Männer offensichtlich noch zu selten erbracht.

Psychodiagnostische Professionalisierung und Förderung auch der interaktionellen Kompetenz wären deshalb besonders im primärärztlichen Bereich, in der Arbeitsmedizin aber vielleicht auch in der Urologie gefordert, um die Weichen für die Männer in Richtung Psychotherapieakzeptanz zu stellen. Aber auch die Psychosomatische Medizin ist aufgefordert, spezifische Psychotherapieangebote zu entwickeln, die den Bedürfnissen von Jungen und Männer besser gerecht werden.

Das leider immer noch weit verbreitete Vorurteil von der angeblichen Gefühlsblindheit von Männern spricht jedenfalls nicht gegen eine Stärkung der psychotherapeutischen Behandlungsangebote auch für Männer. In einer großen Bevölkerungsstudie konnten wir zeigen, dass Schwierigkeiten im Erleben und in der Wahrnehmung von Gefühlen bei Männern nicht wirklich häufiger sind als bei Frauen. Der Anteil der Personen mit entsprechenden emotionalen Einschränkungen beträgt bei beiden Geschlechtern jedenfalls in Deutschland etwa 10 Prozent[6]. Nicht das Erleben sondern das offene Zeigen von Gefühlen ist möglicherweise etwas, was durch den männlichen Rollenkäfig erschwert wird.

Heribert Blass und Matthias Franz beleuchten aus psychoanalytischer Sicht mögliche  Ursachen, die hier von Bedeutung sein können. Ihre Beiträge machen verständlich, welche entwicklungspsychologischen und psychohistorischen Prozesse die seelische Gesundheit und Identitätsentwicklung von Jungen und Männern beeinträchtigen und es ihnen bis heute schwer machen, den krankmachenden Rollenkäfig zu verlassen. In dem Beitrag von Heribert Blass werden die seelischen Konflikte beschrieben, die für die männliche Entwicklung vom Kindes- bis ins späte Erwachsenenalter hinein besonders typisch sind. Ein erster, über vorsprachliche Empfindungen vermittelter Konfliktbereich betrifft den Bezug des kleinen Jungen zu seinem eigenen Körper. Während der Schwangerschaft sowie bei der Geburt und beim Stillen hat er zwar einen ebenso engen Körperkontakt zur Mutter wie das Mädchen, aber im Gegensatz zum Mädchen unterscheidet er sich anatomisch und geschlechtlich von der Mutter. Diese Tatsache kann auf Seiten der Mutter zu unterschiedlichen Gefühlen, wie z.B. Fremdheit oder besonderer Anziehung, führen. Mit der eigenen Wahrnehmung von Penis und Hoden ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres kann es auf Seiten des Jungen ebenfalls zu verschiedenen Reaktionen kommen: er kann seine eigene körperliche Andersartigkeit im Vergleich zur Mutter verzichtend betrauern, aber auch mit Betonung von Stolz bis hin zur Abwertung des Weiblichen beantworten. Hier spielt der Einfluss eines emotional präsenten und verfügbaren Vaters für den Jungen eine wesentliche Rolle. Je nach seiner Anwesenheit und in Abhängigkeit vom emotionalen Verständnis der Eltern untereinander wird die weitere Einstellung des Jungen bezüglich Männlichkeit und Weiblichkeit annehmend oder ablehnend geprägt. Vor dem beschriebenen Hintergrund bleiben Männer in Bezug auf ihre Männlichkeit aber meist unsicherer als Mädchen und Frauen in Bezug auf ihre Weiblichkeit. Auch im erwachsenen Lebensalter und Alter kreisen die seelischen Konflikte vieler Männer um das passende Verhältnis von „härterer“ Selbstbehauptung und „weicherem“ Einfühlungsvermögen. Ungelöste innere Konflikte, die um das Verhältnis von körperlich-seelischer Aktivität und Passivität kreisen, können sich in Angst oder Flucht vor Bindung und Vaterschaft oder in Sexualstörungen ausdrücken. Die Angst vor dem Verlust bisher gefühlter Stärke und das Annehmen schwindender Kraft wird im Alter für Männer oft konflikthafter als für Frauen. Der Autor schildert beispielhaft seine Erfahrungen aus psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlungen dieser männlichen Konfliktbereiche.

Matthias Franz beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Frage, was den männlichen Rollenkäfig immer noch so stabil erscheinen lässt. Er benennt besonders drei wichtige Einflussfaktoren, die zu einer strukturellen Schwächung der männlichen Identität beitragen: Zum einen die psychohistorische Jahrhundertgenealogie heute dramatisch dysfunktional wirkender metallischer Männer- und devaluierter Väterbilder bis hin zu den zunehmend deutlicher werdenden Auswirkungen der im Rahmen von elterlichen Trennungskonflikten entstehenden heutigen Vaterlosigkeit. Die transgenerational wirksamen Einprägungen dysfunktionaler und abwesender Väter zusammen mit  den häufig assoziierten verinnerlichten Bildern einer depressiv-bedürftigen Mutter liefern jeweils eigene Beiträge zur Entwicklung einer männlichen  Scheinautonomie, eines  instabilen männlichen  Selbstwertgefühls mit reflexhafter Abwehr von Abhängigkeit und Emotionalität sowie zunehmender familiärer Bindungsängste vieler Männer. Weiter sieht der Autor die komplexere und darum gerade unter der Bedingung väterlicher Abwesenheit störungsanfälligere psychosexuelle Entwicklung des Jungen als bedeutsam für eine beeinträchtigte Identitätsentwicklung. Schließlich bringt er auch die weithin unterschätzte männliche Kastrationsangst in Zusammenhang mit männlicher Verunsicherung und kompensatorischen Reaktionsbildungen im Sinne der traditionellen Männerrolle. Abschließend untersucht er anhand von Fallbeispielen die subtilen weiblichen Beiträge zur Stabilisierung des männlichen Rollenkäfigs. Eine wertschätzende Haltung und männersensitive Wahrnehmungsbereitschaft jenseits rollentypischer Festlegungen und Idealisierungen könnte nach Ansicht des Autors auch in psychotherapeutischen Behandlungen die Suche nach männlicher Identität unterstützen.

Die Beiträge von Manfred Endres, Bernhard Stier und Marianne Leuzinger-Bohleber beleuchten die psychosomatischen Beeinträchtigungen und Verhaltensprobleme von Jungen und den therapeutischen Umgang mit ihnen an klinischen Beispielen und stellen innovative Behandlungsmöglichkeiten vor. Manfred Endres widmet sich den Herausforderungen der destruktiven Impulsivität von männlichen Jugendlichen, mit der nicht nur Therapeuten sondern auch Eltern, Lehrer und soziales Umfeld zunehmend konfrontiert sind. Der Autor arbeitet auf der Basis eines entwicklungspsychologischen Modells heraus, worin die Ursachen für destruktives Verhalten in der Adoleszenz liegen. Er zeichnet die Entwicklung der männlichen Identität von Geburt an nach und geht hierbei besonders auf mögliche Brüche in der Identitätsentwicklung ein. Für die Entstehung destruktiven Verhaltens spielen insbesondere traumatische Erfahrungen in Folge von Krankheit, Tod oder psychischen Beeinträchtigungen der Elternoder aber Migrationserfahrungen, die mit dem Verlust von Heimat, Gleichaltrigengruppe etc. einhergehen, eine besondere Rolle. An Fallbeispielen aus der therapeutischen Praxis verdeutlicht Endres diese Zusammenhänge.

Kaum eine Störung des Kinder- und Jugendalters wird medial so heftig diskutiert wie das Hyperkinetische Syndrom (HKS), bzw. das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADHS), dass zudem die häufigste psychische Störung des Kindes- und Jugendalters ist. Die 12-Monats-Prävalenz beträgt in Europa ca. 5%. Bernhard Stier beleuchtet in seinem Beitrag kritisch, dass aber Jungen nicht per se von ADHS mehr betroffen sind als Mädchen. Ihr natürlicher Bewegungsdrang sollte nicht pathologisiert und unreflektiert in die Schublade „Hyperaktivität“  gepackt werden. Jungen brauchen naturgegeben mehr Bewegung zum Denken als Mädchen. Der gegenüber dem weiblichen Geschlecht verstärkte Bewegungsdrang ist der Entwicklung des integrierenden Denkens  absolut förderlich. Stier fordert, dieses jungenspezifische Entwicklungsmuster nicht pädagogisch einzuschränken oder mit Methylphenidat zu hemmen.

Marianne Leuzinger-Bohleber und ihre Mitautorinnen Katrin Luise Läzer, Inka Tischer und Birgit Gärtner setzen sich ausgehend von den unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnissen von Jungen und Mädchen und anhand eindrucksvoller Fallbeispiele kritisch mit der zunehmend häufiger diagnostizierten ADHS-Problematik auseinander. Die Autorinnen stellen die ermutigenden Befunde ihrer naturalistischen Studie zur Wirksamkeit auch psychoanalytischer Behandlungen von Kindern mit der Diagnose ADHS und/oder Störung des Sozialverhaltens (Frankfurter ADHS Wirksamkeitsstudie) vor. Die Ergebnisse stützen die Annahme, dass Kinder, die psychoanalytisch behandelt werden, mindestens im vergleichbaren Maße von dieser Therapie profitieren und eine vergleichbare Symptomreduktion der Hyperaktivität, der Unaufmerksamkeit und der Störung des Sozialverhaltens erreichen wie Kinder, die verhaltenstherapeutisch/ medikamentös behandelt wurden.  Die Autorinnen plädieren deshalb – unter Berücksichtigung methodenkritischer Aspekte – für eine Erweiterung der Behandlungsangebote um psychoanalytisch orientierte Verfahren, zumal die so erreichbaren Effekte ohne die chronische Einnahme von Psychostimulantien zustande kamen.

Vieles deutet darauf hin, dass seelisch bedingtes Leiden und Sterben bei Jungen und Männern heute noch unterschätzt und zuweilen sogar übergangen wird. Dies liegt nicht nur an den Männern, sondern auch an kollektiven Abwehr- und Wahrnehmungsbedürfnissen. Wie sieht es also aus mit seelischen Belastungen bei Jungen und Männern? Wie machen sich diese Belastungen an den Themen Arbeit, Sucht, Depression und Gewalt fest? Wieso ist der krankmachende Rollenkäfig auch heute noch so stabil? Wie könnten psychotherapeutische und präventive Angebote für Männer und Jungen aussehen? Und was macht die Auseinandersetzung um diese Themen mit uns selber? All diesen Fragen gehen die Autorinnen und Autoren dieses Buches nach.

 

Literaturhinweis: Matthias Franz und André Karger (Hsg.), Angstbeißer, Trauerkloß, Zappelphilipp? Seelische Gesundheit bei Männern und Jungen. Das Buch ist erschienen im Verlag  Vandenhoeck & Ruprecht, hat 271 Seiten mit 9 Abb. und 9 Tabellen. Es kostet  € 24,99 und ist auch als eBook zum Preis von € 19,99 erhältlich.




[1]Keller, M, Haustein, T (2012): Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ergebnisse des Mikrozensus 2010. Wirtschaft und Statistik 1: 30-50.
[2] Sieverding, M., Kendel, F. (2012):Geschlechter(rollen)aspekte in der Arzt-Patient-Interaktion. Bundesgesundheitsblatt, 55(9): 1118-1124.
[3] Wittchen, H.U., Jacobi, F. (2012): Was sind die häufigsten psychischen Störungen in Deutschland?
Zugriff am 13.2.2015 unter http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Degs/degs_w1/Symposium/degs_psychische_stoerungen.pdf?__blob=publicationFile
[4] Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (2014): Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage.Forschungsgruppe Wahlen.
[5] Franz, M. (1997): Der Weg in die psychotherapeutische Beziehung. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.
[6]Franz, M., Popp, K., Schaefer, R., Sitte, W., Schneider, C., Hardt. J., Decker, O., Braehler, E. (2008): Alexithymia in the German general population. Soc Psychiatry Psych Epidem, 43(1): 54-62.