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Aufsatz des Monats

Am Anfang war die Geschenk-Ökonomie der Familie

By 6. Oktober 2014März 3rd, 2022No Comments
von Norbert Blüm

Die Ehe verdankt ihr Entstehen nicht dem Staat. Sie ist älter als dieser. Mutter und Vater sind sowohl natürlicher als auch kultureller Herkunft. Ehe und Familie sind große Stabilisatoren der Evolution. Alle Erschütterungen der Geschichte und die Katastrophen der Natur, Kriege und Sintfluten überlebten sie – bis jetzt! Bedrohlicher als die gewaltsamen Versuche von gestern ist möglicherweise die klammheimliche Aushöhlung von heute. Entfunktionalisierung durch modernes Outsourcing, wofür die Wirtschaft das Vorbild liefert, lässt von Ehe und Familie dann nur noch eine ausgelaugte Hülle übrig. (….) Die Ehe, in guten wie in schlechten Zeiten, verwandelt sich zeitgemäß in eine vorübergehende Arbeitsgemeinschaft zur gemeinsamen Nutzung der Freizeit, die zu den guten Zeiten gehört. Für schlechte Zeiten ist die Lebensabschnittspartnerschaft nicht eingerichtet.

Mit dem Verschwinden der lebenslangen Ehe verliert unsere Kultur eines der ältesten Bindungsmittel, das Gemeinschaft stabilisiert. „Hingabe“ ist eine elementare gemeinschaftsbildende Vertrauensquelle und eine Quelle menschlichen Glücks, aus der die Liebe schöpft. Schenken und Beschenktwerden hat in der Gemeinschaft der Familie ihren Ursprung und ist etwas anderes als Kaufen und Verkaufen, von dem die Wirtschaftsgesellschaft zusammengehalten wird. Die Ökonomie der Familie kennt kein „Wie Du mir, so ich Dir“, wie es dem marktwirtschaftlichen Äquivalenzprinzip entspricht. Die Ehe entwickelt sich wie die Liebe in einem wechselhaften Geflecht von Überschüssen und Defiziten, Vor-und Nachteilen, die allesamt so vergemeinschaftet werden, daß entweder beide Gewinner oder beide Verlierer sind. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“, und „geteiltes Glück ist doppeltes Glück“. Diese Rechenkunst entstammt familiären Sozialisationen.

Die letzte Zuflucht vor dem neuen Kapitalismus ist die Familie. Es gilt in der Familie der alte sozialistische Grundsatz: Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten. Es gehört zu den tragischen Irrtümern der Linken, die Familie zu bekämpfen. Zu linken Familienparadoxie gehört, erst die Erwerbsgesellschaft zum Inbegriff der Repression zu erklären, um sodann alle Frauen in diese angebliche Zwangsgesellschaft zu intergrieren, auf daß sie anschließend gemeinsam mit dem Mann befreit werden.

Antizipatorische Linke erkannten aber auch das Potential der Gegenwehr gegen eine verdinglichte Welt. Max Horkheimer erinnerte in „Autorität und Familie“ daran: „Im Gegensatz zum öffentlichen Leben hat jedoch der Mensch in der Familie, wo die Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind, und sich die einzelnen nicht als Konkurrenten gegenübertreten, stets auch die Möglichkeit, nicht bloss als Funktion, sondern auch als Mensch zu wirken.“

Der „veröffentlichte Mensch“ ist permanent ausser sich und nie bei sich. Die Intimität der Familie ist möglicherweise der letzte Rückzugsort, der vor der totalen Datenerfassung der Menschen Zuflucht gewährt. (…..)

Dem Imperativ der ständigen Verfügbarkeit steht die auf Dauer angelegte Ehe entgegen. Dem Unglück der Trennung aus dem Weg zu gehen, indem die Trennung zum alltäglichen Normalfall wird, ist ein Verzicht auf dauerhaftes Glück. Aus Angst vor Absturz eine Gipfelwanderung nicht zu versuchen, ist Verzicht auf Glückserfahrung wegen Absturzgefahr. Doch Feigheit ist kein Glücksbringer. (….)

Ihrer Idee und Herkunft nach ist die Ehe keine Gesellschaft, die auf berechenbaren Austauschverhältnissen basiert, sondern eine Gemeinschaft, deren Gegenseitigkeit der Gabe und dem Schenken näher steht. Das Mein und Dein tritt gegenüber dem Wir zurück. Das alte Familieneinkommen ist vergemeinschaftetes Einkommen und kann nicht individuell zugerechnet werden. Es ist gemeinsam erworben (egal, was die Lohnsteuerkarte ausweist). Dieses Ethos der Gemeinschaft und des wechselseitigen Schenkens ist dem modernen Eherecht abhanden gekommen. Dabei ist das Schenken älter als das Tauschen, wie David Graeber eindrucksvoll nachgewiesen hat (David Graeber: DEBT: The first five thousend years, 2011).

Fürsorge kam vor dem Tausch. Auch wenn die Tauschwirtschaft die Wohlstandsförderung ermöglichte, ist die Eliminierung der Fürsorge kein Fortschritt, wenn dabei der Mensch jedweder Gemeinschaftsgeborgenheit verlustig geht. Der Tausch, in dem jeder soviel gibt wie er nimmt, ist erst eine späte Erfindung der Menschheit und entfaltet sich erst voll mit der Geldwirtschaft. Die ursprüngliche Ökonomie ist keine Tausch-, sondern eine Geschenk-Ökonomie, in der zwar auch gegeben und genommen wird, jedoch ohne berechenbare Gegenseitigkeit. Es gleicht sich nämlich alles irgendwie aus. Niemand ist immer stark. Von der Wiege bis zur Bahre leben wir in Asymmetrien und sind deshalb aufeinander angewiesen. Der moderne Sozialstaat bildet die immer geltende Gleichnotwendigkeit nur nach. Die Familie ist der Ursprungsort des Sozialstaates und der Tugend, die ihn trägt – als Solidargemeinschaft.

Der vergemeinschafteten Einkommensbeschaffung und –verwendung entspricht auch das Ehegattensplitting. In das neue Eheverständnis passt das Ehegattensplitting so wenig wie die Ehe als Gemeinschaft. Deshalb steht das Ehegattensplitting auch konsequenterweise auf der Abschussliste.  (….) Ist erstmal das steuerliche Ehegattensplitting gefallen, ist es auch mit der Rücksicht auf die Familie in der Sozialversicherung vorbei. Jeder ist dann nur noch für sich verantwortlich. Mit dem Verfall der familiären Gesinnung verändert sich auch der Sozialstaat. Mit der Ehe und Familie verschwinden die letzten antikapitalistischen Widerstandsnester in der ökonomisch plattgewalzten Gesellschaft. Es kann „neoliberal“ durchregiert werden.  Manche Linke und „fortschrittliche“ Konservative haben die Falle nicht bemerkt, in die sie mit ihrer antifamiliären Attitüde getappt sind.

 


Norbert Blüm war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Bei vorliegendem Aufsatz handelt sich es um Auszüge (Teil III, Seiten 121 – 139) aus dem im September im Westend-Verlag erschienenen neuen Buch des Autors, „Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten“.